Das Wichtigste ist, nicht gleichgültig zu sein.
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, Schweizer Innenministerin
Liebe Leserinnen und Leser
Wer in den 60er oder 70er Jahren mit einem Berner Kontrollschild durch den Jura fuhr, musste froh sein, ohne zerstochene Reifen wieder nach Hause zu kommen. Das war die Zeit, als der Jurakonflikt in der Schweiz fast zum Bürgerkrieg ausartete und die dortige Gesellschaft spaltete. Das kam so:
Am Wiener Kongress (1815) wurde Europa neu geordnet. Die Schweiz musste ebenfalls neu geordnet werden; eine komplette Restauration des «Ancien Régime» war weder möglich noch wünschbar.
Die Arbeitsgruppe, die sich um die Schweiz kümmerte, versuchte auf sehr kenntnisreiche Art, einerseits das Übergewicht Berns abzubauen, andererseits wollte sie Bern als zweisprachigen Kanton erhalten, so dass auch seine Brückenfunktion zwischen Deutsch und Französisch erhalten bliebe.
In diesem Zusammenhang wurden nicht nur protestantische jurassische Gebiete Bern zugesprochen, die schon im Ancien Régime mit Bern verbunden waren, sondern auch katholische Gebiete, die früher direkt zum Bistum Basel gehörten und nichts mit Bern gemein hatten.
Mehr als hundert Jahre später flammte um diese Lösung, die an sich von einem richtigen Gedanken ausging, ein Konflikt auf. Es entstand eine Bewegung, deren Ziel es war, den Jura als eigenen Kanton zu etablieren. Bern reagierte ungeschickt und zum Teil mit übertriebener Gewalt.
Der Jura war völlig gespalten zwischen Berntreuen und Autonomisten. Und die Spaltung trennte oft Familien. Entspannt wurde der Konflikt dadurch, dass durch eine Kaskade von Volksabstimmungen die Grenzen neu gezogen und 1979 ein neuer Kanton Jura geschaffen wurde. Der Berner Jura wurde kleiner, was aber den Autonomisten nicht genügte.
1993 brachte ein missglückter Terroranschlag auf das Berner Rathaus die endgültige Wende. Der Attentäter verschlief, und um drei Uhr morgens explodierte das Auto, in dem er saß. Der Terrorist starb bei der Explosion, die offenbar dadurch ausgelöst wurde, dass er das Autoradio eingeschaltet und damit den Zünder seines Sprengsatzes ausgelöst hatte.
Der misslungene Anschlag führte einerseits zu großer Empörung, andererseits auch zur politischen Beilegung des Jurakonflikts. Kluge Köpfe versuchten, die Situation zu beruhigen, und die Kantone Bern und Jura einigten sich auf eine zweite Abstimmung im Berner Jura, die grosso modo die Zugehörigkeit zum Kanton Bern bestätigte.
Gespalten ist die Gesellschaft heute als Folge der Coronazeit. Eine Schweizer Rentnerin hat im Interview mit mir gezeigt, zu was diese Spaltung führt. Sicher kann man auch hoffen, dass sich die Coronazeit von selbst erledigt. Der Staat kann immer darauf beharren, dass er Recht hat. Dass das keine kluge Strategie ist, zeigt der Jurakonflikt. Bern hätte darauf beharren können, im Recht zu sein. Stattdessen ging man auf die unverstandene Minderheit in der Nordwestecke des Kantons zu und verhandelte geduldig und über Jahre.
Hätte man das nicht getan, dann wäre der Jura noch bernisch. Aber es wäre bei der Durchfahrt wohl nicht mit zerstochenen Reifen getan. Den Versöhnungskurs habe ich schon in den 80er Jahren gespürt, als ich als Soldat dort stationiert war und durch den Akzent in meinem Französisch problemlos als Berner identifiziert werden konnte. Und heute kann ich, wenn in Bern Nebel ist, ganz entspannt im Jura an der Sonne Kaffee trinken, ohne zu fürchten, dass meinen Reifen etwas passiert.
Der Anstoß zur Versöhnung nach der Coronazeit müsste also von oben kommen, mit einem glaubwürdigen Angebot zur Aufarbeitung, das auch rechtliche Konsequenzen und gesetzliche Maßnahmen nicht ausschließt. Zum Beispiel von Elisabeth Baume-Schneider, deren Departement die WHO-Verträge verhandelt und diese durch die Hintertür in die Schweizer Gesetzeslandschaft einbringen will.
Es ist effektiv das Wichtigste, nicht gleichgültig zu sein, wie Baume-Schneider meint. Das Kind eines deutschsprachigen, berntreuen Vaters, das im französischsprachigen, separatistischen Umfeld aufgewachsen ist, weiß, was Spaltung bedeutet. Die Bauerntochter musste jeweils das T-Shirt mit der Aufschrift «Vive le Jura libre» auf der Türschwelle ausziehen. Dies berichtete sie in einem bewegenden Doppelinterview, das Der Bund vor gut zehn Jahren mit der damaligen jurassischen Ministerin und ihrem berntreuen Vater führte.
Bleiben Sie uns, geneigte Leserin, geneigter Leser, gewogen!
Daniel Funk