Die westliche Standarddarstellung der gegenwärtigen georgischen Politik stellt die Regierung der Partei «Georgischer Traum» als von Russland beherrscht und von «demokratischen» Parteien bekämpft dar. Die Wahrheit ist viel komplexer.
In der georgischen Politik spiegelt sich nicht der Wunsch wieder, Moskau zu folgen, sondern das, was der CIA-Direktor William Burns als «hedging middle» bezeichnet hat: Sie ist weder Russland noch dem Westen untergeordnet und wird von der offiziellen Auffassung darüber bestimmt, was die nationalen Interessen Georgiens sind.
Dies wiederum spiegelt globalisierende Entwicklungen wieder, die sich längst der Kontrolle des Westens entzogen haben. Auf dem Weg zur georgischen Grenze kam ich an einer riesigen neuen Brücke vorbei, die von China gebaut wird. Trotz großen Unmuts in Washington hat die georgische Regierung mit Peking auch einen Vertrag über den Bau eines neuen Hafens am Schwarzen Meer unterzeichnet.
Es ist dringend notwendig, dass westliche Politiker die georgische Realität begreifen, denn es kann getrost vorausgesagt werden, dass Georgien Ende Oktober in eine schwere politische Krise stürzen wird, in die die USA und die EU tief verwickelt sein werden. Am 26. Oktober stehen in Georgien Parlamentswahlen an.
Die allgemeine Meinung unter den Georgiern, mit denen ich gesprochen habe, ist, dass die Opposition, unterstützt von prowestlichen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), im Falle eines Wahlsiegs behaupten wird, die Ergebnisse seien gefälscht. Man werde eine Massenprotestbewegung in Gang setzen, um die Regierung des «Georgischen Traums» zu stürzen.
Nach den jüngsten Erklärungen zu urteilen, werden sich die meisten westlichen Institutionen automatisch auf die Seite der Opposition stellen. Dieses Narrativ ist bereits in vollem Gange, mit Schlagworten wie «Regierung gegen das Volk in Georgien» und «eine Krise, die die Regierung gegen das Volk ausgespielt hat».
Dies suggeriert, dass Georgien eine Diktatur ist, in der «das Volk» nichts zu sagen hat, außer durch Straßenproteste. Tatsächlich hat der «Georgische Traum» drei im Allgemeinen freie nationale Wahlen gewonnen.
Das soll natürlich nicht ausschließen, dass im Oktober manipuliert wird. Westliche Beamte und Kommentatoren sollten sich daran erinnern, dass die Opposition auch behauptete, die Parlamentswahlen im Jahr 2020 seien manipuliert worden, obwohl westliche Beobachter bescheinigten, dass die Wahlen frei waren (wenn auch mit Mängeln) und die Partei «Georgischer Traum» mit sehr großer Mehrheit gewonnen hat.
Meinungsumfragen zufolge hat sie heute weit mehr Unterstützung als jede einzelne Oppositionspartei. Wenn sich die gesamte Opposition zusammentut, könnte sie eine Mehrheit erringen, aber die erbitterten Spaltungen zwischen den verschiedenen Parteien machen dies sehr schwierig. Westliche Regierungen und Kommentatoren sollten sich auch darüber im Klaren sein, dass die Nichtregierungsorganisationen, auf die sie sich bei ihren Informationen über Georgien stützen, in den meisten Fällen eng mit der georgischen Opposition verflochten sind und zudem überwiegend vom Westen finanziert werden.
Bereits im Jahr 2023 behauptete die georgische Regierung, dass die USA den Grundstein für einen Regimewechsel in Georgien legten, indem sie die Ausbildung von Georgiern durch serbische Aktivisten finanzierten, deren frühere Organisation eine wichtige Rolle beim Sturz der Regierung von Serbiens Präsident Slobodan Milosevic gespielt hatte. Ihre jetzige Gruppe, die in Belgrad ansässige «Canvas», «setzt sich für den Einsatz des gewaltlosen Widerstands zur Förderung der Menschenrechte und der Demokratie ein».
Während des Kalten Krieges haben die US-Regierungen häufig dazu beigetragen, demokratisch gewählte Regierungen zu stürzen, die nicht mit Washington übereinstimmten. Die US-Amerikaner sollten sich fragen, ob sie diese Tradition wirklich fortsetzen wollen.
Das neue georgische Gesetz, nach dem sich NGOs mit ausländischer Finanzierung als «Agenten ausländischer Einflussnahme» registrieren lassen müssen (was im Mai zu großen, von der Opposition angeführten Protesten führte), wurde zum Teil als Reaktion auf diese wahrgenommene Bedrohung eingeführt und soll diese Quelle der internen und externen Stärke der Opposition schwächen. Als Reaktion auf das Gesetz hat die EU den Beitrittsprozess Georgiens eingefroren und einen Großteil ihrer Hilfe gestrichen, während die USA Sanktionen gegen georgische Regierungsvertreter verhängten.
Der EU-Botschafter in Tiflis hat öffentlich erklärt, dass eine Wiederwahl vom «Georgischen Traum» das Ende der georgischen Hoffnungen auf einen EU-Beitritt bedeuten würde. Die georgische Regierung ist zwar nach wie vor grundsätzlich entschlossen, eine Mitgliedschaft in der NATO und der EU anzustreben. Aber das NATO-Mitglied an der Westgrenze Georgiens ist nicht Polen oder Frankreich, sondern die Türkei, und die Türkei hat eine Politik der entschiedenen Neutralität gegenüber dem Krieg in der Ukraine verfolgt und sich auch geweigert, sich den westlichen Sanktionen gegen Russland anzuschließen.
Die georgische Regierung ist der Ansicht, dass Russland Georgien zwar in absehbarer Zeit nicht bei der Wiedervereinigung mit den ethnischen Separatistengebieten helfen wird, die sich in den 1990er Jahren mit Moskaus Hilfe abspalteten, dass der Kreml aber auch nicht den Wunsch hat, einen neuen Krieg gegen Georgien zu beginnen. «Warum sollten sie auch? Sie haben doch alles bekommen, was sie wollten», wurde mir gesagt.
Wie in der Türkei beruht die Politik des «Georgischen Traums», verstärkte Spannungen mit Russland zu vermeiden, teilweise auf wirtschaftlichen Erwägungen. Wie ein georgischer Freund sarkastisch bemerkte:
«Nur sehr wenige Georgier haben eine Zuneigung zu Russland oder den Russen, aber sehr viele Georgier wollen an ihnen verdienen.»
Georgien hat von der Weigerung seiner Regierung, sich den westlichen Sanktionen gegen Russland anzuschließen, reichlich profitiert. Obwohl Georgien keine formellen diplomatischen Beziehungen zu Russland unterhält, stauen sich Lastwagen, die vom Persischen Golf und anderswo nach Russland kommen, kilometerweit an der Grenze.
Russland ist nach wie vor ein wichtiger Markt für georgische Agrarerzeugnisse, Georgien empfängt zahlreiche Touristen aus Russland. Vor allem wegen des Krieges in der Ukraine wuchs das georgische BIP im Jahr 2022 um 11 Prozent und im Jahr 2023 um 7,5 Prozent.
Die Propaganda der georgischen Regierung gegen die Opposition konzentriert sich weitgehend auf die Behauptung, dass sie Georgien als Teil einer von den USA gesteuerten «globalen Kriegspartei» in einen neuen Krieg mit Russland hineinziehen werde. Diese Warnung findet bei vielen Georgiern großen Widerhall, scheint aber stark übertrieben zu sein.
Die Anhänger der Opposition, mit denen ich gesprochen habe, lehnen einen Krieg mit überwältigender Mehrheit ab. Eine neue georgische Regierung könnte allenfalls mehr georgische Freiwillige zum Kampf in der Ukraine ermutigen. Eine weitaus plausiblere Warnung ist, dass der Preis für die westliche Unterstützung eines Sieges der Opposition die vollständige Übernahme westlicher Wirtschaftssanktionen gegen Russland durch Georgien wäre, was der georgischen Wirtschaft schweren Schaden zufügen würde.
Auch wenn die georgische Politik gegenüber Russland also auf Pragmatismus beruht, so ist doch auch ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Westen über die Jahre gewachsen. Obwohl sowohl die georgische Regierung als auch die meisten einfachen Georgier weiterhin grundsätzlich eine NATO-Mitgliedschaft anstreben, zeigte sich niemand, mit dem ich bei meinem letzten Besuch sprach, zuversichtlich, dass die NATO im Falle eines Krieges tatsächlich für Georgien kämpfen würde.
Diese Skepsis geht auf den georgisch-russischen Krieg von 2008 zurück. Die Bush-Regierung hatte Georgien die künftige NATO-Mitgliedschaft angeboten, und US-amerikanische Beamte und Politiker hatten Georgien als Verbündeten der USA bezeichnet. Dennoch haben die USA nichts getan, um Georgien zu helfen.
Die Einstellung zur EU ist wesentlich positiver, sowohl wegen der erhofften wirtschaftlichen Vorteile und der Vorteile für die Migration als auch weil der Gedanke, zu Europa zu gehören, tief in der georgischen Kultur verankert ist (obwohl Georgien nach der strengen geografischen Klassifizierung eigentlich in Asien liegt). Nichtsdestotrotz sind im georgischen Establishment die Zweifel auch an der EU gewachsen.
Dies ist zum Teil auf die Skepsis zurückzuführen, ob Georgien überhaupt jemals in die EU aufgenommen wird. Wie ich in Tiflis immer wieder daran erinnert wurde, wartet Georgiens Nachbar Türkei seit vielen Jahrzehnten auf die Aufnahme.
Das liegt natürlich vor allem an Gründen, die spezifisch für die Türkei sind. Im Falle Georgiens werden die Zweifel jedoch durch das Gefühl verstärkt, dass Georgien niemals vor der Ukraine in die EU aufgenommen werden wird und dass eine Vollmitgliedschaft der Ukraine wahrscheinlich unmöglich ist.
Diese Zweifel am Engagement des Westens wurden durch innenpolitische Entwicklungen sowohl in Europa als auch in den USA verstärkt, die auf eine zunehmende öffentliche Ablehnung einer weiteren NATO- und EU-Erweiterung hinweisen. In ihrer Einstellung zur EU verhalten sich die Anhänger der georgischen Regierung ähnlich wie die Anhänger rechter Parteien in der EU, was den Unmut über das vermeintliche Diktat Brüssels betrifft, auch in Bezug auf eine Geschlechterpolitik, die als fremd gegenüber den georgischen Kerntraditionen angesehen wird.
In der georgischen Bergstadt Gudauri, nahe der russischen Grenze, steht ein Wegweiser. Darauf ist unter anderem zu lesen: Ankara, 1.200 km; Moskau 1.591 km; Peking, 5.834 km; und Washington D.C. 9.209 km. Seit meinem ersten Besuch in Georgien im Jahr 1990 haben mir die Georgier ihr Bedauern darüber mitgeteilt, dass ihr Land im südlichen Kaukasus und nicht in Südeuropa liegt. Das mag in der Tat bedauerlich sein. Es ist aber auch eine Tatsache.
Anatol Lieven ist Direktor des Eurasien-Programms am Quincy Institute for Responsible Statecraft in Washington DC. Von 2014 bis 2021 war er Professor an der Georgetown University in Katar. Er hat einen PhD von der Universität Cambridge in England. Von 1986 bis 1998 arbeitete Anatol Lieven als britischer Journalist in Südasien, Afghanistan, der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropa. Er ist Autor mehrerer Bücher über diese Regionen. Seine Artikel erschienen in der Financial Times, der New York Times, Foreign Affairs, Foreign Policy, Time und Newsweek. Sein neuestes Buch «Climate Change and the Nation State« erschien 2021 als Taschenbuch bei Penguin Oxford University Press.
Der englische Originalbeitrag ist zuerst am 31. Juli 2024 online hier erschienen.
Aus dem Englischen übersetzt von Éva Péli.