Bei Sonnenaufgang, dem Höhepunkt des Nova-Trance-Festivals im Süden Israels, standen vermutlich die meisten Besucher unter dem Einfluss einer oder mehrerer Drogen. Dann durchbrachen Hamas-Kämpfer die ausgelassene Idylle. Für die Feiernden begann ein oft stundenlanger Horror. Laut der Times of Israel wurden bei dem Angriff 364 Personen getötet, andere verletzt und 40 in den Gazastreifen entführt (wir berichteten hier, hier, hier und hier).
Psychoaktive Substanzen, insbesondere LSD, können schon unter normalen Umständen einen «bad trip» verursachen. Es ist kaum vorstellbar, wie Partygänger, die solche Drogen eingenommen hatten, den Terrorangriff auf das Festival erlebt haben.
Der israelische Psychologe Ran Sapir behandelte Überlebende des Angriffs. Im Interview mit Haaretz spricht er darüber und zieht überraschende Schlüsse. Sapir hat selbst Erfahrungen mit psychoaktiven Substanzen gemacht – in Holland, wie er betont, da diese dort im Gegensatz zu Israel legal seien.
Sapir zitiert den Psychiater Stanislav Grof, der die «klassischen» Psychedelika einmal «unspezifische Verstärker der Psyche» nannte. Damit habe er gemeint, dass unser sinnlicher Input verstärkt wird, aber auch Teile des Unbewussten ins Bewusstsein treten. Die Substanzen würden Abwehrmechanismen reduzieren und Inhalte an die Oberfläche bringen, die man normalerweise verdrängt. Sapir sieht darin den Nutzen dieser Substanzen in der Psychotherapie. Sie würden den eigenen unwillkürlichen Widerstand gegenüber Veränderungen umgehen:
«Die psychedelische Erfahrung ist transformativ – sie lässt das Ego, das uns hemmt, einfach dahinschmelzen.»
Der Psychologe erläutert zwei Schlüsselbegriffe im Zusammenhang mit Psychedelika: «Set» und «Setting». «Set» beziehe sich auf die Einstellung, die man hat. Neben der eigenen Geschichte und Psychologie beziehe sich der Begriff auch auf die eigenen Absichten. Man gehe beispielsweise auf eine Party, um zu tanzen, um sich gehen zu lassen, um zu entspannen. Diese Substanzen würden es ermöglichen, im Augenblick zu sein – eine Situation, die in der Meditation selbst nach jahrelanger Übung schwer zu erreichen sei.
Das «Setting» beziehe sich hingegen auf die Umgebung: Der Ort, die Menschen und die Musik. Eine Umgebung, die eigentlich sicher und geschützt sein sollte. Sapir weiter:
«Was auf der Nova-Party geschah, war ein noch nie dagewesener Angriff auf das Set und die Umgebung. Die Leute mussten augenblicklich von einer Situation des Loslassens, des Glücklichseins zu einem Kampf um ihr Leben übergehen. Sie waren völlig ungeschützt.»
Sapir geht dann auf die Wirkung der einzelnen Substanzen in einer solchen Situation ein. MDMA (Ecstasy) sei zum Beispiel eine empathogene Substanz: Sie induziere Gefühle von Empathie, Wohlwollen und sozialer Akzeptanz. Ein Teil seiner Wirkung sei, «dass sich das Herz wirklich öffnet, jeder schön aussieht, jeder nett zu einem ist». Es gebe eine Art gemeinschaftliches euphorisches Gefühl:
«Und was passiert, wenn die Euphorie auf so albtraumhafte Weise abgebrochen wird? Meine Schlussfolgerung, basierend auf dem, was ich bisher von Überlebenden der Party gehört habe, ist, dass unser Überlebensinstinkt anscheinend der stärkste Bewusstseinsveränderer von allen ist. So mächtig, dass Menschen, die Acid (LSD) genommen hatten, offenbar begriffen, was geschah, und entsprechend reagieren konnten.
Eine Frau sagte: ‹Ich realisierte, dass ich jetzt ein gejagtes Tier war und alles tun musste, um den Jägern zu entkommen.› Jemand anderes sagte, dass der Moment, in dem er verstand, was los war, so war, als ob er einen Knopf drückte – und das war es: Er war nicht mehr high. Nun, es ist klar, dass er high war, dass er allerlei Dinge sah, aber etwas zielgerichtetes wurde in ihm geweckt, das auf die Situation reagierte. Er sagte: ‹Das einzige, was ich im Kopf hatte, war, nach Hause zu kommen›.»
Hamas-Kämpfer hält einen Mann während des Massakers auf dem Supernova-Musikfestival fest, 7. Oktober 2023. Bild: Dashcam footage: No human authorship, Public domain, via Wikimedia Commons
Der Psychologe erläutert auch den Effekt von Kokain. Er zählt es fälschlicherweise zu den Amphetaminen, meint aber wahrscheinlich Aufputschmittel. Kokain sei auf der Party vermutlich am beliebtesten gewesen. Es erzeuge ein Gefühl von Fokus, Schärfe, Energie. Zum einen sei das während eines Terrorereignisses nützlich. Zum anderen lasse die Wirkung von Kokain aber schnell nach. Es werde also viel davon konsumiert, und um den «Down» zu vermeiden, werde parallel dazu Alkohol getrunken.
«Als die Morgendämmerung anbrach, waren die Leute, die Amphetamine [Aufputschmittel] genommen hatten, vielleicht schärfer und fokussierter, aber zwei Stunden später waren sie betrunken, dehydriert und funktionsunfähig. Kokain aktiviert die gleichen Mechanismen im Gehirn, die in einer Überlebenssituation wirksam sind. Aber noch einmal, ich glaube wirklich, dass die stärkste bewusstseinsverändernde Substanz der Überlebensinstinkt ist. Die Reaktion von Kampf, Flucht oder Erstarren. Jemand erzählte mir, er habe gesehen, wie Leute ein Telefon benutzten, um Hilfe zu rufen, und einfach erstarrten. Er sagte, er habe noch nie in seinem Leben Menschen so erstarren sehen. Sie seien die ersten gewesen, die ermordet wurden.»
Sapir zufolge könne jemand auf Kokain sein und erstarren, weil das seine Überlebensreaktion sei.
Im Gegensatz zu Kokain dauere die Wirkung von MDMA zwischen vier und sechs Stunden. Es sei zwar ebenfalls ein Stimulans, aber eben empathogen. Leute hätten gesagt, dass sie wegen MDMA Selbstmitgefühl empfanden und kein Schuldgefühl für das, was um sie herum geschah.
Sapir glaubt, dass MDMA den Betroffenen geholfen hat, weniger Schuldgefühle zu empfinden. Andererseits sei man unter MDMA sehr offen für das, was um einen herum geschieht. Einen Gewaltakt unter dem Einfluss von MDMA zu erleben, sei unvorstellbar furchtbar und bedrohlich. Er habe am 7. Oktober hauptsächlich an Leute gedacht, die MDMA und Ketamin genommen hatten.
Ketamin, ein Beruhigungsmittel, werde oft auf Partys verwendet. Man gebe sich der Substanz hin. Ein Patient habe ihm gesagt, es sei, als wäre man «eine Nudel in einer Suppe». Das Problem, wenn man versuche zu überleben, ist Sapir zufolge, dass Ketamin dissoziativ ist, es trenne einen:
«In einer Überlebenssituation willst du so scharf wie möglich sein, aber Ketamin ist ein Schleier; es beeinflusst die Motorik und verzögert auch die Reaktionszeit. (…) Es scheint leider so zu sein, dass die Leute, die unter dem Einfluss von Ketamin standen, nicht mehr unter uns sind.»
Der Psychologe weist zudem darauf hin, dass die Leute Substanzen mischen. Sie würden MDMA mit Ketamin nehmen, und LSD mit einer synthetischen Droge namens Doctor. Die motorischen Funktionen würden beeinträchtigt, die Reaktionszeit ändere sich.
«Ein sehr langer Albtraum»
Von den klassischen Psychedelika wird laut Sapir auf Partys meistens LSD konsumiert. Ein «Acid-Trip» kann zwischen 10 und 14 Stunden dauern:
«Wenn man in einem Albtraum ist, wird es ein sehr langer Albtraum. Jemand erzählte mir, dass er und seine Freunde später in einer therapeutischen Umgebung über ihre Erfahrung mit Acid bei der Nova sprachen. Sie sagten, sie seien zielgerichtet geworden. Sie fühlten sich, als wären sie in einem Computerspiel. Keine Gefühle. Keine Gedanken. Keine Interpretationen. Nur der Drang, nach Hause zu gehen. Er sagte: ‹Ich fahre und die Strasse bewegt sich die ganze Zeit wegen der Wirkung von Acid, aber ich weiss, dass die Strasse gerade ist›.»
Ein Hamas-Kämpfer zielt mit seiner Waffe auf einen Unterstand, in dem sich Festivalbesucher versteckt halten, 7. Oktober 2023. Bild: Dashcam footage: No human authorship, Public domain, via Wikimedia Commons
Sapir erwähnt die «erschütternde» Geschichte von jemandem, der berichtete, er habe Leichen von Menschen gesehen, aber er habe sich irgendwie von den hübschen Farben ihrer Hemden mitreissen lassen. Weil das sinnliche Erlebnis schärfer werde und sich erweitere, könnten Farben einen wirklich packen:
«Das ist eine Frage, die mich beschäftigt hat. Ich habe versucht, mir die ganze Zeit vorzustellen, wie sie gedacht und gefühlt haben. Was ist mit denen auf der Rave-Party, die einen schlechten Trip hatten, und dann begann der Horror in der Realität? Psychedelika verwischen die Grenzen zwischen dem Inneren und dem Äusseren. Mit anderen Worten, ich kann mich in einer sicheren Umgebung befinden, aber Traumata und Erinnerungen, die aus dem Unterbewusstsein auftauchen, können mich bedrohen.
Einige der Nova-Überlebenden berichteten, dass sie zuerst nicht verstanden, ob der Angriff eine Manifestation ihrer Ängste war oder tatsächlich passierte. Andererseits beeinflussen Psychedelika auch unsere Funktionalität. In einer funktionalen Situation sind wir sozusagen weniger mit unseren tiefsten Intuitionen verbunden. Wenn ich mit ihnen verbunden wäre, könnte ich jetzt einfach aufstehen und auf eine Schaukel gehen. Mit Acid bist du mit diesen Intuitionen verbunden.»
Eine Frau habe genau zum Sonnenaufgang LSD genommen und als sie unter dessen Einfluss erkannt habe, dass sie in Gefahr war, habe sie plötzlich gewusst, wohin sie gehen musste. Sie habe sich selbst vertraut. Das sei in der psychedelischen Erfahrung ziemlich üblich. Viele Menschen würden eine Art Erkenntnis wie diese beschreiben, die nicht rational ist, «ein emotionales, tiefes, intuitives Wissen»:
«Die Überlebenden der Party fühlten, dass das Acid ihnen in diesem Sinne geholfen hat. Die Frau, die zum Sonnenaufgang einen Trip genommen hatte, überlebte, weil sie sich in einer Art Busch versteckte, in einer extrem unbequemen Position, und dort neun Stunden lang wartete. Ohne sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Mit Acid gibt es keine Bedürfnisse; man fühlt sich, als ob man in einer Art Erfahrung ist, in der man nichts braucht. Das ist wahrscheinlich das, was ihr geholfen hat, so lange in derselben Position zu erstarren.»
Therapeuten, die mit Nova-Überlebenden arbeiteten und arbeiten, würden immer wieder mit Erstaunen über ihre Stärke und ihr Durchhaltevermögen sprechen. Die Aussagen, die Überlebende gegenüber ihm selbst machten, zeigen gemäss Sapir, dass sie unglaublich kreativ waren. Sie seien augenblicklich zu Soldaten geworden. Einige hätten die Möglichkeit des Todes vollständig akzeptiert.
Schuldgefühle, Traumata und Selbstmorde
Sapir erörtert dann die komplexe Dynamik von Trauma, Schuld und Bewältigungsmechanismen. Schuldgefühle könnten das Trauma verschlimmern, indem sie Menschen daran hindern, ihre Erfahrungen zu verarbeiten und Hilfe zu suchen. Im Gegensatz zur Kampf- oder Fluchtreaktion auf unmittelbare Gefahr stellte die Party eine Reihe von sich überschneidenden Herausforderungen dar, die ein längeres strategisches Vorgehen erforderten.
Der Psychologe geht auch auf das therapeutische Potenzial von Substanzen wie Psilocybin-Pilzen ein, die Menschen bei der Bewältigung von unheilbaren Krankheiten und Traumata helfen würden.
Die Schwere des erlebten Traumas variiert unter den Überlebenden des Nova-Anschlags laut Sapir stark. Diejenigen, die sofort entkommen konnten, hätten möglicherweise eine andere psychologische Erfahrung im Vergleich zu denen, die Grausamkeiten beobachteten, die an ihren Freunden verübt wurden. Körperliche Verletzungen würden das Nachspiel weiter verkomplizieren, da einige Überlebende noch im Krankenhaus seien, sich in Rehabilitation befänden und mit unumkehrbaren Schäden konfrontiert seien, die ihre Bewältigungsmechanismen beeinflussen können.
Die emotionale Belastung sei tiefgreifend bei Fällen von Überlebenden, die unmittelbar nach dem Ereignis mehrere Beerdigungen von Freunden besucht hätten. Unter den Überlebenden habe es auch Selbstmorde gegeben. In diesem Zusammenhang kritisiert Sapir das Fehlen eines umfassenden staatlichen Eingreifens. Die Unterstützung sei weitgehend von Initiativen der Zivilgesellschaft gekommen.
Die Mehrheit der Nova-Überlebenden wird Sapir zufolge wahrscheinlich keine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln. Das bedeute, dass sie an dem Ereignis wachsen können. Optimistisch stimme ihn auch, dass Israel einer der ersten Orte auf der Welt ist, an dem die Behandlung von PTBS mit Hilfe von MDMA erforscht wurde. Die Ergebnisse seien ausgezeichnet. Bei der Behandlung von PTBS, «der grössten Herausforderung für Therapeuten», habe es einen bedeutenden Durchbruch gegeben. In etwa einem Jahr soll MDMA für den Einsatz in der Behandlung legalisiert werden.
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