Den Plan der Hamas für den Angriff aus dem Gaza-Streifen auf Israel, wie er am 7. Oktober dieses Jahres erfolgt ist, haben israelische Geheimdienste bereits ein Jahr zuvor erhalten. Das schreibt die US-Zeitung The New York Times (NYT) in ihrer Ausgabe vom 1. Dezember. Sie beruft sich dabei auf Informationen der israelischen Behörden, in die sie Einsicht hatte.
Der 40-seitige Plan der Hamas sei von israelischer Seite mit dem Codenamen «Mauer von Jericho» versehen worden, in Anlehnung an die gleichnamige biblische Erzählung. Gemäss der Zeitung habe er «Punkt für Punkt genau» den Angriff vom 7. Oktober beschrieben. Doch er sei von führenden Kräften in Israels Militär und Geheimdiensten ignoriert worden, da er als zu ambitioniert für die Möglichkeiten der Hamas gegolten habe.
Der Plan enthalte nicht nur das genaue Vorgehen, wie es dann tatsächlich umgesetzt wurde, sondern ebenso Einzelheiten über den Standort und die Grösse der israelischen Streitkräfte, deren Kommunikationsknotenpunkte sowie andere sensible Informationen. Das wirft laut NYT Fragen darüber auf, wie die Hamas ihre Informationen gesammelt hat, und ob es undichte Stellen im israelischen Sicherheitsapparat gab.
Das Dokument zirkulierte den Angaben nach in weiten Kreisen des israelischen Militärs und des Geheimdienstes. Deren Experten seien aber zu dem Schluss gekommen, dass ein Angriff dieses Ausmasses und dieser Ambition die Möglichkeiten der Hamas übersteige.
«Es ist unklar, ob Premierminister Benjamin Netanjahu oder andere führende Politiker das Dokument ebenfalls gesehen haben», berichtet die US-Zeitung.
Geheimdienst-Analytiker hätten darauf aufmerksam gemacht, dass die Hamas Elemente des Planes im Juli geübt habe. Das hätten aber hochrangige Offiziere der Gaza-Division der israelischen Armee nur als «phantasievolles Szenario», das nicht umsetzbar sei, eingeschätzt.
Laut New York Times räumten offizielle Stellen Israels ein, dass der Angriff der Hamas wahrscheinlich abgeschwächt oder verhindert worden wäre, wenn das Militär die Warnungen ernst genommen und sich darauf vorbereitet hätte. Dagegen wurden noch am 6. Oktober zwei Bataillone der Gaza-Division abgezogen und in das palästinensische Westjordan-Land beordert, um dort angesichts zunehmender Konflikte illegale Siedlungen zu schützen.
Darauf hatte unter anderem der investigative Journalist Seymor Hersh in einem am 12. Oktober veröffentlichten Bericht hingewiesen. In der NYT wird das nicht weiter erwähnt, sondern davon gesprochen, dass der Hamas-Plan eine «jahrelange Kaskade von Fehltritten» der israelischen Sicherheitsbehörden offenlege. Die Autoren erklären:
«All diesen Fehlern lag ein einziger, fatal falscher Glaube zugrunde: dass die Hamas nicht in der Lage sei anzugreifen, und es auch nicht wagen würde, dies zu tun. Dieser Glaube sei in der israelischen Regierung so tief verwurzelt gewesen, dass sie die zunehmenden Beweise für das Gegenteil ignoriert habe, so die Beamten.»
Das israelische Militär und der israelische Sicherheitsdienst, der für die Terrorismusbekämpfung in Gaza zuständig ist, hätten eine Stellungnahme abgelehnt. Wie der Plan in ihre Hände kam, sei nicht bekannt, aber er sei «eine von mehreren Versionen von Angriffsplänen, die im Laufe der Jahre gesammelt wurden».
Die Zeitung berichtet von einem Memorandum des israelischen Verteidigungsministeriums aus dem Jahr 2016, wonach die Hamas beabsichtige, «die nächste Konfrontation auf israelisches Gebiet zu verlegen.» Ein solcher Angriff würde höchstwahrscheinlich eine Geiselnahme und «die Besetzung einer israelischen Gemeinde (oder vielleicht sogar mehrerer Gemeinden)» beinhalten, wird aus dem Dokument zitiert.
Darin sei auch festgehalten, dass ein solcher Angriff «zu einer schweren Schädigung des Bewusstseins und der Moral der Bürger Israels führen» würde. Laut NYT wurde darin auch beschrieben, die Hamas habe hochentwickelte Waffen, GPS-Störsender und Drohnen gekauft, und wolle bis 2020 ihre Kampfeinheiten, die Qassam-Brigaden, auf 40’000 Mann aufstocken.
Die Kühnheit des Hamas-Plans habe es leicht gemacht, ihn zu unterschätzen, gibt die Zeitung Aussagen israelischer Beamter wieder.
«Alle Militärs schreiben Pläne, die sie nie umsetzen, und israelische Beamte schätzten, dass die Hamas, selbst wenn sie einmarschieren würde, nur ein paar Dutzend Soldaten aufbieten können würde, und nicht die Hunderte, die schliesslich angriffen.»
Dem Bericht zufolge war es nur die israelische Überheblichkeit gegenüber den Palästinensern, die anscheinend den Hamas-Angriff ermöglichte. Die Frage, ob es politisch absichtsvolle Ignoranz war, um das Palästina-Problem im zionistischen Sinne endgültig «lösen» zu können, bleibt unbeantwortet. Sie muss gestellt werden, denn Netanjahu zeigte am 22. September in der UN-Generalversammlung eine Karte des «Neuen Mittleren Osten» mit einem Gross-Israel, in dem es kein Palästina, kein Gaza und kein Westjordanland mehr gibt.