Spätestens mit dem Krieg in der Ukraine zeige sich bei den etablierten Medien im deutschsprachigen Raum ein massiver Realitätsverlust. Das meint der Journalist Patrik Baab. Am Montag hat er in Berlin seine These bei der Eurasien-Gesellschaft vorgestellt und begründet.
«Sie haben sich verrannt in die eigene Propaganda und sind gar nicht mehr in der Lage, die reale Situation zu verstehen.»
Das bescheinigte Baab den etablierten Medien, aber auch der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Er verknüpfte seine Analyse mit eigenen Erlebnissen bei seinen Reisen in die West- und in die Ostukraine. Diese beschreibt er auch in seinem neuen Buch «Auf beiden Seiten der Front», das kürzlich erschienen ist.
Er belegte seine These mit zehn Punkten, als deren ersten er die Blindheit der etablierten Medien für die militärische Lage benannte. Diese werde nur aufgrund der ukrainischen Propaganda und gemäss dem Wunschdenken der westlichen Unterstützer Kiews beschrieben. Bald habe sich gezeigt, dass die im Juni dieses Jahres begonnene ukrainische Gegenoffensive gescheitert sei. Dennoch sei immer wieder von vermeintlichen ukrainischen Erfolgen gegen die russischen Truppen berichtet worden.
«Der Wunsch ist der Vater des Gedankens», interpretierte Baab dieses Vorgehen. Die Presse in Deutschland folge dieser Propaganda. Weiter stellte er fest:
«Der Presserummel um die sogenannte Gegenoffensive stellt Propaganda über Journalismus.»
Moralisch-ethische Blindheit
Der Journalist machte als Zweites eine moralisch-ethische Blindheit bei den «Leitmedien» aus. Diese zeige sich unter anderem darin, dass die etablierten Medien kaum über den seit 2014 von Kiew gegen den Donbass geführten Krieg berichteten. Dabei werde seit Jahren auch Streumunition eingesetzt.
Die Kanoniere der Kiewer Truppen würden ihre Ziele anpeilen und dabei wissen, dass es keine militärischen Ziele seien. «Es gibt dafür nur eine Erklärung: Sie wollen die Menschen im Donbass vernichten.» Es sei ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung in der Ostukraine.
Aber auch die Opfer der Kampfhandlungen mit zerstörerischen Waffen kämen kaum in den Medienberichten vor, so Baab. Er verwies auf Berichte über mehrere hunderttausend gefallene ukrainische Soldaten.
«Die Zahl der Opfer ist erschreckend. Länder, die die Ukraine unterstützen, sind für den Tod hunderttausender Männer verantwortlich.»
Baab bezeichnete das Verhalten der Medien als «unmoralisch», was ebenso für die westliche Politik gelte. Der Grund: Die Menschen im Donbass würden als «Untermenschen» gesehen werden, die es nicht verdienten, ein normales Leben zu führen. Der Philosoph Peter Sloterdijk habe das bereits 1983 als «Informationszynismus» beschrieben.
Als drittes Symptom des medialen Realitätsverlustes machte Baab die «Kausalitätsblindheit» aus. Das belegte er mit Informationen zu den Vorgängen auf dem Kiewer Maidan-Platz seit 2013. Diese führten zum Staatstreich im Februar 2014 gegen den gewählten Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Die anfänglichen Proteste gegen die Korruption im Land seien benutzt worden, sagte er. Er belegte das mit Augenzeugenaussagen aus seinem Buch.
Gezielte Irreführung
Die Maidan-Proteste seien von westlichen Organisationen und Geldgebern bezahlt und von ultranationalistischen Kräften aus der Westukraine dominiert worden: «Das Volk wurde benutzt.» Baab machte an diesem Beispiel «den Unwillen, im Weg der Recherche den Dingen auf den Grund zu gehen», bei den Medien aus.
Untersuchungen belegten nach seinen Worten, dass es sich bei den Schüssen auf Demonstranten und Polizisten auf dem Maidan kurz vor dem Putsch um «eine Operation unter falscher Flagge» gehandelt habe. Diese sei «wohlüberlegt geplant und ausgeführt» worden, mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen und die Macht zu übernehmen. Die Mainstreammedien liessen solche Erkenntnisse unerwähnt.
«Das zeigt: Die grösste Gestaltungsmacht von Medien liegt nicht nur im Agenda-Setting, sondern auch und gerade im Agenda-Cutting. Die Deutungsmacht der journalistischen Gatekeeper wird hier zum Lügen durch Weglassen.»
Durch strategisches Framing würden Inhalte auf den Kopf gestellt: «Aus dem Putsch ultra-nationalistischer Kräfte im Bunde mit NATO und EU wird eine demokratische Revolution kreiert.» Es sei dabei darum gegangen, «vorherrschende Deutungsmuster gezielt zu aktivieren und störende Faktoren verschwinden zu lassen».
Das sei gezielte Irreführung der Öffentlichkeit, stellte der Journalist klar. Er machte eine «soziale Blindheit» als vierten Punkt aus. Am Beispiel eines Ukrainers, der sich als Schwarzarbeiter verdingen muss, beschrieb er die soziale Lage im Land. Zu den Folgen der extrem niedrigen Löhne in der Ukraine gehöre, dass die Bevölkerung von 52 Millionen im Jahr 1992 auf knapp 37 Millionen im Jahr 2020 geschrumpft sei.
Durch den Krieg beschleunige sich der Schrumpfungsprozess dramatisch: Bis Ende September 2022 seien mehr als 6,5 Millionen Menschen ins Ausland gegangen. Baab dazu:
«Davon lesen Sie nichts in unseren Zeitungen. Die Mainstreammedien zeigen erstaunliche Ignoranz gegenüber den sozialen Missständen in der Ukraine. Sie sind sozial blind. Damit blenden sie die Lebenswirklichkeit der Menschen aus.»
Die mediale Propaganda wolle den Menschen im Westen «weismachen, dass im Krieg in der Ukraine unsere Werte verteidigt werden. In Wirklichkeit rechtfertigen sie die Kumpanei mit einem Regime, in dem genau diese Werte mit Füssen getreten werden.»
Der Journalist bescheinigte den Mainstreammedien ausserdem eine «psychologische Blindheit». Die habe sich unter anderem in der Berichterstattung über die Referenden in den ostukrainischen Gebieten, die von der russischen Armee erobert wurden, gezeigt. Dabei wurde die Bevölkerung im September 2022 gefragt, ob sie zu Russland gehören wolle. Eine grosse Mehrheit beantwortete das mit Ja.
Patrik Baab in der Veranstaltung im Berliner Logenhaus am 23. Oktober 2023 (Foto: Tilo Gräser)
Baab war damals vor Ort. Er berichtete am Montag auch von Gesprächen mit Menschen, die an den Referenden teilgenommen haben. Er zitierte einen älteren Mann:
«Auf dieses Referendum haben wir jahrelang gewartet. Die Menschen im Ausland sollten wissen, dass hier russische Menschen leben. Mit Russland verbindet uns alles. Politik, Wirtschaft, Religion. Wir feiern dieselben Feste. Wir wollen nicht, dass diese Seelenverwandtschaft auseinandergerissen wird.»
Das habe er an mehreren Orten gehört. Doch diese mehrheitliche Meinung der Ostukrainer, bestätigt von anderen Journalisten, sei von den Mainstreammedien verschwiegen worden:
«Es sind genau diese Zusammenhänge, die in Deutschland nicht dargestellt werden. Stattdessen wird der Reporter vor Ort diskreditiert, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.»
Ethnisch-kulturelle Blindheit
Seine Beobachtungen vor Ort seien als «Scheinobjektivität» dargestellt worden, «ausnahmslos von sachfremden Schreibtisch-Besitzern». Entscheidend sei offenbar, «dass die Realität im Donbass nicht in die deutschen Wohnzimmer gelangen darf».
Dazu gehöre zudem eine «ethnisch-kulturelle Blindheit». Die zeige sich beispielsweise im Weglassen der Tatsache, dass es nie eine «reinrassige Ukraine» gegeben habe. In dem Land mit zahlreichen Nationalitäten und Volksgruppen würden inzwischen alle Spuren der russischen Kultur aus dem Bewusstsein getilgt. Das sei Teil eines umfassenden Geschichtsrevisionismus der Kiewer Machthaber, unterstützt vom Westen.
Die im Februar 2014 an die Macht gekommenen Kräfte würden der Idee anhängen, «Menschen würden durch Blutsbande zusammengehalten». Dieses rassistische Konzept werde von den Medien im Westen ausgeblendet:
«Sie folgen der Propagandalogik, dass Ultranationalismus und Faschismus, Bücherverbrennung und Unterdrückung kultureller Minderheiten gar nicht so schlimm sind, wenn es den Interessen des transatlantischen Blocks dient.»
Hinzu komme die «ökonomische Blindheit», betonte Baab. Die westlichen Sanktionen gegen Russland würden diesem kaum schaden, dafür aber die Wirtschaft der Europäischen Union (EU) massiv schwächen.
«Der Wirtschaftskrieg wirkt sich im Westen stärker aus als in Russland, einem energieautarken Land, das nun an den gestiegenen Öl- und Gaspreisen auf dem Weltmarkt sogar noch kräftig verdient ... Der von Washington angezettelte und von seinen Satrapen mitgetragene Wirtschaftskrieg richtet sich im Kern gegen Deutschland. Den USA ist es damit gelungen, einen lästigen Konkurrenten auszuschalten und den eigenen Industriestandort zu stärken. In den sogenannten Leitmedien werden diese Fakten in den Hintergrund gedrängt.»
Geostrategische Blindheit
Dies sei auch verbunden mit einer «politischen und geostrategischen Blindheit». Dabei werde ausgeblendet, dass der «wichtigste Grund für den Krieg» die NATO-Osterweiterung sei. Zu den Folgen gehöre, dass die Ukraine wahrscheinlich am Ende geteilt werde. Russland werde in den ostukrainischen Gebieten bleiben, sagte der Journalist.
Geostrategisch gehe es den USA bei der Unterstützung Kiews darum, den eurasischen Raum zu spalten:
«Dafür ist die Ukraine der Hebel. Sie soll nicht mehr Brücke zwischen den Völkern, sondern ein Keil zwischen Russland und Westeuropa sein.»
Die einzige Weltmacht wolle ihre globale Dominanz sichern. Das berge die Gefahr eines Atomkrieges. Dabei zeige sich eine leitmediale «Apokalypse-Blindheit». Er verwies auch auf russische Diskussionen um einen möglichen Atomwaffeneinsatz. Der US-Politologe John Mearsheimer habe vor den Folgen gewarnt, die entstünden, wenn die Nuklearmacht Russland in die Ecke gedrängt werde.
Doch solche Kritiker des Eskalationskurses, zu denen auch Ex-Bundeswehr-Generalsinspekteur Harald Kujat gehört, werden medial ausgegrenzt und diffamiert, wie Baab bestätigte. «Sie müssen ihre Kritik in Nischen-Medien wie Emma oder Zeitgeschehen im Fokus äussern, da ihnen der Zugang zu den Leitmedien versperrt ist.»
«Diese Politik der Ausgrenzung, welcher sich die herrschenden medialen Eliten als Strategie zur Lenkung und Manipulation der Gesellschaft bedienen, entzieht dem Einzelnen die Ressourcen zur Meinungsbildung über die tatsächliche Lage.»
Zentrale Eskalationstreiber
Die Medien seien zum «zentralen Eskalationstreiber» geworden. All das verbinde sich mit der «Blindheit gegenüber journalistischen Mindeststandards», beschrieb der frühere NDR-Redakteur den zehnten Punkt. Er belegte das mit eigenen Erfahrungen und warf dem medialen Mainstream vor, ein Zerrbild der Realität abzuliefern und Propaganda zu transportieren.
Das werde unter anderem dadurch begünstigt, dass, anders als bei früheren Konflikten und Kriegen, alle sogenannten Qualitätsmedien 2014 ihre Korrespondenten aus dem Donbass abgezogen haben. Zudem werde die Vorgeschichte des Krieges weggelassen. Bei den sieben journalistischen Fragen «Wer? Wo? Was? Wann? Wie? Warum? Woher?» würden die Antworten zum «Wie» und «Warum» ausgelassen.
«Der Leser bleibt verwirrt zurück und ratlos. Ein Opfer der Propaganda.»
Die Mainstreammedien würden den tatsächlichen Kriegsgründen und den Zusammenhängen nicht nachgehen, so Baab. Stattdessen orientierten sie sich an der Propaganda der Ukraine und der NATO. Er fügte hinzu:
«Was der US-Reporter im Vietnamkrieg John Pilger geschrieben hat, stimmt auch mit Blick auf den Krieg in der Ukraine: Hätte die Presse ihre Arbeit gemacht, wäre es wahrscheinlich zu diesem Krieg nicht gekommen.»
Der Journalist sieht als Lösung der beschriebenen Probleme nur die Gegenöffentlichkeit. In der Diskussion mit dem Publikum sagte er:
«Wir müssen die Gegenöffentlichkeit ausbauen und stabilisieren.»
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