Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Befrag die Stille, die da schwieg
im weiten Feld, im Pappelhain,
Befrag die Birken an dem Rain.
Dort, wo er liegt in seinem Grab,
den russischen Soldaten frag!
Sein Sohn dir drauf Antwort gibt:
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Jewgeni Jewtuschenko
Liebe Leserinnen und Leser
Ich möchte Ihnen heute an dieser Stelle einige Bemerkungen zu etwas übermitteln, das ich bemerkenswert finde: Es sind das einige Kommentare und Reaktionen auf Texte, in denen ich an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion vor fast 84 Jahren, den folgenden faschistischen Vernichtungskrieg, die Opfer und die Folgen wie den Sieg der sowjetischen Armee und ihrer Verbündeten am 8. beziehungsweise 9. Mai 1945 erinnere.
Fast reflexartig kommen dazu Kommentare und Bemerkungen, offen oder im Hintergrund, in denen das historische Geschehen und auch die Dimension der faschistischen deutschen Verbrechen relativiert wird. Da wird unter anderem die alte Präventivkrieg-Legende der Führung des Dritten Reiches wiederholt, sie sei am 22. Juni 1941 nur einem geplanten sowjetischen Angriff zuvorgekommen.
Ein anderes wiederkehrendes Muster der relativierenden Reflexe ist der Hinweis auf die deutschen Opfer in Folge von Kriegsverbrechen seitens der sowjetischen Roten Armee und ihrer westlichen Alliierten. Auch die Vertreibung und Flucht von Millionen Deutschen aus ihrer Heimat in Ostpreußen, Schlesien, dem Sudetenland und anderswo gehört dazu.
Ich finde diese Reaktionen bemerkenswert, weil sie wie eine Abwehr der Erinnerung an das unfassbare Leid wirken, das der deutsche faschistische Vernichtungskrieg über die Sowjetunion und ihre Menschen brachte. Es geht mir nicht darum, irgendetwas von dem Leid und Elend der Menschen, egal auf welcher Seite, das der Krieg mit sich brachte, in Frage zu stellen oder zu relativieren.
Ich selbst bin Sohn einer Frau, die als junges Kind Vertreibung und Flucht aus der ostpreußischen Heimat erleben musste und die ihren Vater nie kennenlernte. Der wurde als deutscher Soldat Anfang 1944 auf dem Gebiet der Sowjetunion als vermisst gemeldet.
Doch leider ist es seit Jahren und in letzter Zeit zunehmend so, dass nicht nur Ursache und Wirkung verkehrt werden. Die Folgen des Krieges auch für die deutsche Bevölkerung, das Leid und Elend, dass auch über sie kam, werden nicht erst seit 1989 umfänglich benannt. Daran wird immer wieder erinnert und das soll auch so sein, weil es zu der Geschichte des Krieges gehört, aus der nur eine Lehre zu ziehen ist: Dass sich so etwas nie wiederholen darf!
Doch es wird auch anscheinend bewusst das Leid verschwiegen, das durch Deutsche in der Sowjetunion angerichtet wurde, die dort nichts verloren und zu suchen hatten, außer dass sie verbrecherischen Befehlen folgten. Es wird versucht, es aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis zu löschen, sofern es dort zu finden ist. Das gilt auch für die unfassbare Zahl von offiziell etwa 27 Millionen Toten in der Sowjetunion.
Es erscheint mir wie eine bewusste Amnesie, um sich nicht der Verantwortung für unfassbares Leid zu stellen. Es soll anscheinend von den Ursachen abgelenkt werden: Im Fall der Sowjetunion der deutsche Überfall und der geplante faschistische Vernichtungskrieg.
Es waren deutsche Befehle, jene, die sie erteilten, und jene, die sie befolgten, die die Kette des Todes und des Leides, die jeder Krieg mit sich bringt, vor mehr als 80 Jahren auslösten. Die Verbrechen der Deutschen an den Menschen in der Sowjetunion und in ganz Europa stehen am Anfang des unfassbaren Leides.
Und natürlich haben sie auch Hass und Rache bei den Überlebenden ausgelöst. Aber wer wundert sich denn darüber?
An das Leid, das im Namen Deutschlands vor mehr als 80 Jahren über Europa und in unfassbarem Ausmaß über die Menschen in der überfallenen Sowjetunion gebracht wurde, zu erinnern – nicht mehr und nicht weniger will ich tun mit meinen Beiträgen wie den Berichten über den Aufenthalt in Moskau um den 9. Mai herum.
Es sind die Geschichten nicht nur der gefallenen sowjetischen Soldaten, die im Winter 1941 vor Moskau ihr Leben verloren, als sie die faschistische deutsche Wehrmacht stoppten. Was hatten die deutsche Soldaten dort verloren? Es sind auch die Geschichten wie die von Ewdakija Anikanowa, der als Kind im KZ Blut für einen deutschen Soldaten entnommen wurde, über die Ulrich Heyden auf den NachDenkSeiten berichtete, die bewahrt und immer wieder erzählt werden müssen.
Aber auch die Geschichte des Deutschen, von der ich vor Jahren erfuhr, der als Hitlerjugend-Mitglied noch in den letzten Tagen des Krieges in Sachsen eingezogen wurde. Er kam in sowjetische Gefangenschaft und wurde in das zerstörte Land abtransportiert, um beim Wiederaufbau zu helfen. Dort mussten er und die anderen in Erdhütten und unter freiem Himmel übernachten. Im kalten Winter 1946 bekam er von einer sowjetischen Frau warmes Essen und Handschuhe geschenkt, damit er nicht erfriert – die Handschuhe ihres Mannes, den die deutsche SS ermordet hatte.
Oder die Geschichte der jungen sowjetischen Partisanin, die von den Deutschen gefangen genommen und ins KZ gebracht wurde. Dort half ihr ein deutscher Wachsoldat beim Überleben, indem er ihr ab und zu etwas zu Essen zusteckte, wie ihre Tochter unlängst in Berlin berichtete.
All diese Geschichten von Leid, Tod und Elend, aber auch von Menschlichkeit, müssen bewahrt und weitergegeben werden – damit sich nie wieder wiederholt, was vor 80 Jahren mit dem Siegt der sowjetischen Roten Armee beendet wurde. Was damals geschah, darf nicht in Vergessenheit geraten, gerade angesichts heutiger Kriegstreiberei deutscher und westlicher Politik, die geschichtsvergessen erklären, dass Russland „immer Deutschlands Feind bleiben wird“.
Deshalb berichte ich auch von meinem zweiwöchigen Aufenthalt in Moskau rund um den 80. Jahrestag des Sieges über den Faschismus. Und ich hoffe, dass diese Berichte bei Ihnen wie auch die anderen Beiträge meiner Kolleginnen und Kollegen auf Transition News auf Interesse stoßen und Ihnen Wissensgewinn vermitteln.
Herzliche Grüße
Tilo Gräser
***********************
Herzlichen Dank an alle, die Transition News treu unterstützen und damit unsere Arbeit und Unabhängigkeit erst ermöglichen!
