Es scheint keinen Ausweg aus dem Krieg im Nahen Osten zu geben, stellt der investigative US-Journalist Seymour Hersh in seinem am Mittwoch veröffentlichten aktuellen Text fest. Und er befürchtet nach Gesprächen mit Insidern in Israel, aus dem Libanon und den USA, dass es einen langen Krieg in der Region geben wird.
Die Tötung von Hamas-Anführer Yahya Sinwar werde den Krieg Israels gegen die Hamas nicht beenden und der Vernichtungsfeldzug gegen die Palästinenser in Gaza weitergehen. Auch von seinen Kontakten im Libanon, die der Hisbollah nahestehen, habe Hersh «nichts gehört, was auf etwas anderes als einen langen Krieg hindeutet».
Er macht darauf auf die Tatsache aufmerksam, dass der Hamas-Chef Sinwar an der Oberfläche im Kampf und nicht in einem der Tunnel der Organisation, in dem er vermutet wurde, getötet wurde. Das deute auf einen «eklatanten Geheimdienstfehler» auf israelischer Seite hin.
«Es gibt keine Beweise dafür, dass Sinwar eine Flucht in Sicherheit plante, aber die Umstände seines Todes sollten Anlass zu ernsthaften Fragen über die Fähigkeiten des israelischen Militärgeheimdienstes geben.»
Hersh macht außerdem deutlich, dass der Einfluss von US-Präsident Joseph Biden auf die Kriege des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu «auf die Lieferung von Bomben und anderem Kriegsgerät beschränkt war». Biden habe bei seinem Anruf bei Netanjahu diesem zur Tötung Sinwars gratuliert und das mit der Ermordung des mutmaßlichen Al Qaida-Chefs Osama Bin Laden durch US-Spezialeinheiten 2011 verglichen.
Der US-Journalist berichtet, dass die saudi-arabische Führung sich um den Wiederaufbau des Gaza-Streifens kümmern wolle. Die Biden-Administration habe einen Plan vorgelegt, wonach Gaza ein saudisches Protektorat werden soll, wobei eine solche Perspektive in weiter Ferne liege, solange das Blutvergießen dort anhalte.
Ein US-amerikanischer Insider habe ihm gegenüber aber eine solche Variante als «unwahrscheinlich» bezeichnet. Israel habe keine Kontakte mehr zur palästinensischen Seite und werde deshalb die Kontrolle über den Gaza-Streifen weiterhin selbst behalten und ausüben.
Hersh gibt Aussagen eines ehemaligen libanesischen Regierungsbeamten mit Kontakten zur Hisbollah wieder, wonach Mohammed Sinwar, der jüngere Bruder des getöteten Hamas-Chefs die Führung der Organisation übernehmen werde. Dieser habe ebenfalls bereits in jungen Jahren gegen die israelische Besatzung gekämpft und dafür mehrere Jahre im Gefängnis gesessen.
Der jüngere Sinwar sei ein «harter Kämpfer, der den militärischen Flügel der Hamas anführte». Zudem sei er «genauso intellektuell wie» sein älterer Bruder: «Er und seine Kollegen werden wie Che Guevara wirken.»
Der libanesische Ex-Beamte habe erklärt, die Hisbollah könne inzwischen, anders als im Krieg mit Israel 2006, größere israelische Städte wie Haifa angreifen. Die Organisation habe sich aber entscheiden, keine zivilen Ziele in Haifa und im Norden Israels anzugreifen, während die Israelis mehr als 2006 leiden würden – in Folge der angeordneten Evakuierungen von 65.000 Menschen im Norden.
Die israelische Luftwaffe würde ihre Bombenangriffe auf Ziele im Libanon und dessen Hauptstadt Beirut ungehindert ausweiten. Große Gebiete der Stadt seien in Schutt und Asche gebombt worden und zunehmend würden Zivilisten sterben, die nichts mit dem Konflikt zu tun haben. Der Krieg sei eine Tragödie für den Libanon und werde noch lange andauern, zitiert Hersh seinen libanesischen Kontaktmann.
Ein US-amerikanischer Experte für Konfliktlösung im Nahen Osten hat laut dem Journalisten erklärt, dass Netanjahu darauf aus sein könnte, «den Norden des Gaza-Streifens von allen palästinensischen Bewohnern säubern zu lassen». Das geschehe vor allem aufgrund der Forderungen der israelischen Rechten und erlaube Siedlern, sich passende Grundstücke im Gaza-Streifen auszusuchen.
Der US-Experte habe gängigen Einschätzungen widersprochen und sich skeptisch gezeigt, dass Israel in diesem Krieg eine schwere Zeit durchmacht, so Hersh. Israel habe aber noch keine größere Invasion in den Libanon gestartet und kontrolliere den Informationsfluss.
«Wir wissen also nicht was passiert, aber es ist möglich, dass Israel seine Ziele langsam erreicht», schlussfolgert der Journalist. Der US-Experte habe ihm gegenüber erklärt, dass die Hisbollah in einem strategischen Dilemma sei: Sie könne zwar größere Städte in Israel angreifen, tue es aber nicht – «zum Teil aus Sorge vor den Folgen, die Israels Gegenschlag für die libanesische Infrastruktur und die Zivilbevölkerung haben könnte».
Der US-Amerikaner habe gesagt, dass viele in Israel denken, dass die ganze Welt sie sowieso hasse, und sie alles dafür tun, «dass jeder Israel und die Juden hasst». Deshalb würden sie ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen ihre Ziele in der Region durchsetzen.
«Es könnte funktionieren. Niemand hält sie auf, und der Iran will keinen Selbstmord begehen.»
Die libanesische Schiiten-Miliz werde nicht wie 2006 einen Sieg über Israel erringen, da es sich diesmal um einen langfristigen Krieg handele, in den die Miliz «naiv» gezogen sei. Sie habe gedacht, sie könne damit das Töten im Gaza-Streifen stoppen, doch darüber entscheide die israelische Führung.
Die Hisbollah befinde sich nun in einem Krieg ohne klare Ziele «und ihr Feind hat freie Hand, zu tun, was immer er will ... kein amerikanischer Präsident, der ihn in die Schranken weist». In den USA würden einige darin die Möglichkeit sehen, den Nahen Osten neu zu gestalten.
«Daher wird dies wahrscheinlich langwierig und schrecklich und regional sein.»
Hersh zitiert außerdem einen pensionierten hochrangigen israelischen Militärbeamten, den er nach dem Krieg im Libanon und dem Hass in Israel auf Netanjahu fragte. Der Israeli habe erklärt, dass viele im israelischen Militär und in den Geheimdiensten den Premier verachten würden:
«Sie halten Bibi für gefährlich für Israel. Aber wir leben in einem demokratischen System, und ein Staatsstreich kommt nicht in Frage.»
Zu dem iranischen Drohnenangriff auf Netanjahus Privatresidenz habe er gesagt:
«Die Iraner sind nicht dumm. Sie haben gezeigt, dass sie unseren Premierminister erreichen können, und uns so das Gefühl der Verwundbarkeit vermittelt. Gleichzeitig wissen sie, dass 50 Prozent wissen, dass Bibi schlecht für Israel ist. Ihn zu töten, wäre aus ihrer Sicht ein idiotischer Fehler.»
Hersh weist daraufhin, dass trotz der Verachtung auch im israelischen Militär für Netanjahu aktuelle Umfragen in Israel einen stetigen Anstieg der Popularität des Premierministers im Laufe des vergangenen Kriegsjahres zeigen. Eine in diesem Monat veröffentlichte Umfrage habe eine überwältigende Unterstützung für Netanjahus Entscheidung ergeben, den Krieg auf die Hisbollah auszudehnen.
Andere Umfragen hätten die Tötung von Sinwar gelobt und weitere würden zeigen, dass Netanjahus Likud-Partei bei einer weiteren Parlamentswahl mehr Sitze in der Knesset, dem israelischen Parlament, gewinnen würde.
«Der Krieg ist für Politiker auf der ganzen Welt nach wie vor ein Segen.»