Es wird niemals so viel gelogen
wie vor der Wahl,
während des Krieges
und nach der Jagd.
Otto von Bismarck
Liebe Leserinnen und Leser
Ich darf und soll wieder mal wählen. Am 9. Juni soll ich meine Stimme abgeben, für Menschen, die dann im Parlament der Europäischen Union (EU) sitzen.
Doch ich bin mir noch nicht sicher, ob ich wählen gehe, ehrlich gesagt. Zu den Gründen für meine Zweifel gehört, dass es sich bei dem EU-Parlament um ein machtloses Parlament handelt.
Es dürfte eine der machtlosesten «Volksvertretungen» von allen Gremien dieser Art sein, die es weltweit gibt. Es ist eine scheindemokratische «Fassade ohne Substanz dahinter», wie der Politologe Andreas Wehr in Heft 5/6-24 des Magazins Hintergrund in einem Beitrag dazu zeigt.
Das mit der «Fassade ohne Substanz dahinter» stammt sogar aus der großbürgerlichen Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 22. Februar 2024. Dabei ging es um die Schein-Spitzenkandidatur von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die nach der letzten EU-Wahl ins Amt kam, obwohl niemand sie gewählt hatte – niemand aus dem Wahlvolk.
Aber ich will das jetzt hier nicht weiter vertiefen, das kann auch in dem erwähnten Magazin nachgelesen werden. Aber das steht im Zusammenhang mit meinen Zweifeln, ob ich wählen gehen soll.
Denn wenn ich meine Stimme abgebe, dann kann ich ja danach nichts mehr sagen – wenn ich das jetzt mal ganz wörtlich nehme und unabhängig von der Frage, was ich denn als einzelner Bürger überhaupt zu sagen habe. Aber es passt schon, denn nach der Wahl sollen die Wähler den Gewählten vertrauen und deren Entscheidungen nicht in Frage stellen, wie es heißt.
Der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering erklärte 2006 doch tatsächlich: «Wir werden als Koalition an dem gemessen, was in Wahlkämpfen gesagt worden ist. Das ist unfair!» Was war die Aufregung groß, doch geändert hat sich nichts.
Neben anderen sagte Parteienforscher Jürgen Falter damals dazu:
«Die Bürger wählen die Katze im Sack! Wahlversprechen sind eine Fiktion. Die Politiker sagen nur, was sie machen würden, nicht, was sie wirklich machen werden. Das schafft Unmut und Politikerverdrossenheit.»
Das war schon immer so und wird sich (wahrscheinlich) auch nicht ändern. Die Politikwissenschaftlerin Lea Elsässer stellte 2018 in ihrem Buch «Wessen Stimme zählt?» am Beispiel des Bundestages fest: Die politischen Entscheidungen des Parlaments von 1980 bis 2013 wurden «systematisch zu Lasten unterer sozialer Klassen verzerrt».
Es habe kein systematischer Zusammenhang zwischen den politischen Anliegen der ärmeren Bevölkerungsteile und den parlamentarischen Entscheidungen festgestellt werden können. Die von Elsässer erkannte «soziale Schieflage in der politischen Repräsentation» zeigt, wessen Interessen der herrschende Politikbetrieb mit dem Etikett «Demokratie» wahrnimmt und durchsetzt. Die Politikwissenschaftlerin fasste das so zusammen:
«Demnach wenden sich mehr Menschen von der Politik ab, weil ihre Anliegen nicht beachtet werden, was wiederum die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in ihrer selektiven Responsitivität bestärkt, da sie von potenziellen Nichtwählerinnen und Nichtwählern auch nicht mehr politisch sanktioniert werden.»
Und in einem Aufsatz betonte sie:
«Eine Politikänderung ist sehr viel wahrscheinlicher, wenn eine große Mehrheit der Reichen sie befürwortet.»
Ein anderer Politikwissenschaftler, Armin Schäfer, schrieb erst in diesem Jahr:
«Die Vertreter des ganzen Volkes weichen in ihren Einstellungen von Teilen der Bevölkerung stark ab, ihre Entscheidungen spiegeln die politischen Präferenzen der Bessergestellten wider. Das untere Drittel der Gesellschaft ist nicht nur numerisch, sondern auch substantiell unterrepräsentiert – und das nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern wie Spanien, den Niederlanden, Schweden oder Norwegen.»
Nun bin ich nicht reich, gehöre eher zu den prekär Beschäftigten unter den Journalisten – also, warum soll ich jene wählen, die die Interessen von mir und anderen sozial ähnlich Gestellten ignorieren. Das ist ja auf der EU-Ebene noch krasser.
Hinzukommt, dass die Parlamente auch in den Staaten, die andere über «Demokratie» belehren, längst entmachtet sind, wie vor einigen Jahren der Publizist Fritz Glunk konstatierte. Der Publizist Wolfgang Koschnick kam ebenfalls vor Jahren bereits nach der Analyse der politischen Entscheidungsprozesse zu dem Schluss:
«Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr.»
Einen letzten Anstoß für meine Zweifel, ob ich wählen gehen soll, gab die SPD: Die plakatiert hier in meinem Berliner Stadtbezirk tatsächlich, ich solle wählen gehen, «damit es am rechten Rand eng wird». Das gibt’s auch als Postkarte.
Wie bitte? Die SPD will also das rechte Feld besetzen, damit kein anderer dort Platz findet, und ich soll ihr dabei helfen? Ist das ein Eingeständnis, dass diese Partei schon so weit nach rechts gerückt ist, dass es dort am Rand eng werden kann? Ihre Politik bis zur aktuellen Kriegstreiberei bestätigt das auf jeden Fall.
Das erinnert nicht nur an den einstigen CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß, der 1987 erklärte: «Rechts von der CDU/CSU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben.» Strauß wollte damals mit politischen Angeboten die rechten Wähler «abholen», um die Konkurrenz mit einer «Umarmungsstrategie» in die Enge zu treiben.
Nein, da mache ich nicht mit, erst recht nicht, wenn die SPD mich dazu auffordert. Diese Partei, die verlogen zur vermeintlichen Rettung der Demokratie «gegen Rechts» aufruft, obwohl sie mitverantwortlich ist für den Zustand der Gesellschaft und die gefährdete Demokratie. Hans-Joachim Maaz bezeichnete das zu Recht als «falschen Protest».
Dieses «Demokratie-Spiel» (Maaz) mache ich nicht mit, egal, wer mich dazu aufruft. Vielleicht reihe ich mich in die stärkste Kraft bei fast allen Wahlen ein, in die Gruppe der Nichtwähler. Dann vertritt mich zwar niemand im Parlament, aber der- oder diejenige würde dort sowieso nichts für mich tun können.
Ich wünsche Ihnen, soweit Sie nicht in der (noch) EU-freien Schweiz leben, ein schönes und entspanntes Vorwahl-Wochenende, allen Schweizerinnen und Schweizern ein ebensolches wahlfreies Wochenende – sowie Lesespaß und Wissensgewinn mit den Beiträgen auf Transition News!
Herzliche Grüße
Tilo Gräser
***********************
Hinweise:
Herzlichen Dank an alle, die Transition News treu unterstützen und damit unsere Arbeit und Unabhängigkeit erst ermöglichen!
***********************
***********************
Transition News-Jahrbuch 2023
Unser neues Jahrbuch 2023 ist erschienen. Das übergeordnete Thema ist die Spaltung der Gesellschaft und wie sich diese überwinden lässt.
Das Buch aus einer Sammlung der besten Beiträge von Transition News aus dem vergangenen Jahr. Hinzu kommen Gastbeiträge von bekannten Autoren, darunter Milosz Matuschek, Christian Kreiß, Ernst Wolff und Christoph Pfluger. Zu den untergeordneten Themen gehören Krieg, Corona, Wirtschaft, Klima, künstliche Intelligenz und die Gender-Ideologie.
Unser Jahrbuch bieten wir hier zum Verkauf an. Als Geschenk werden es Grossspender und diejenigen erhalten, die ein Spenden-Abo lösen.
***********************
Hier finden Sie unsere neuen Podcasts.
***********************
- Transition TV: Stand der Dinge vom 24. Mai:
- Strassenumfrage: Wie kommen wir aus der Blase?
- Reportage: Rückblick auf den Widerstand gegen Stuttgart 21
- Portrait: Schenk-Ökonomie im Luzerner Lokal Pinakarri
- Interview: Wie funktioniert 100-Prozent-Politik?
***********************
Yunite - Das neue alternative Vernetzungsportal.
***********************
Die brandneue Ausgabe von «DIE FREIEN» ist da!
In unserer 12. Ausgabe unter dem Motto «Resonanz – der Anklang des Seins» stimmen wir das Lied der Lebens an und bringen die Musik der Freiheit zum klingen. Tauchen Sie mit uns ein in eine Welt voller guter Vibrationen und Inspirationen!
Diesmal mit dabei: Diana Richardson, Jochen Kirchhoff, Werner Altnickel, Susanne Lohrey, Ulrich Warnke, Masha Dimitri, Thomas Becherer, Ursula Spring, Nicolas Lindt, Priscilla Bucher, Werner Thiede u.v.m.
Bestellen Sie Ihre Ausgabe gleich hier
***********************
Weitere Themen im neusten Zeitpunkt:
-* Der verrückte Strommarkt und wie wir uns mit den Erneuerbaren den Konzernen unterwerfen, anstatt sie selber zu nutzen und autonom zu werden.
-* Eine ungemütliche Antwort auf die Frage, warum die EU ihre Wirtschaft zu Boden fährt
-* Ein Plädoyer für starke Männer, die ihre Macht mit Frauen teilen
-* Der Mechanismus des Scheiterns: indem wir Probleme so definieren, dass sie mit bestehenden Lösungen lösbar erscheinen.
Reichlich Lese- und Brennstoff, der Sie hoffentlich in die Lage versetzt, in diesen verrückten Zeiten klaren Kopf zu bewahren.
Für Fr./€ 10.- statt 15.– bestellen.
***********************