Die neuen Machthaber in Syrien um die islamistische Miliz Hayat Tahrir al Sham (HTS) gelten westlichen Politikern und Medien als «pragmatische Radikale», auch wenn sie sich Berichten zufolge wie extremistische Islamisten verhalten. Die HTS ist aus Al-Qaida-Gruppen in Syrien und dem Irak hervorgegangen und galt lange Zeit als Terrorgruppe.
Zur bitteren Ironie der Geschichte gehört, dass der gestürzte syrische Präsident Bashar al-Assad viele Jahre die US-Geheimdienste mit Informationen über Al Qaida versorgte. Daran erinnert der investigative US-Journalist Seymour Hersh in einem kürzlich veröffentlichten Text.
Darin schreibt er unter anderem über seine Begegnungen mit Assad, den er demnach mehrmals von 2003 bis 2011 traf. Personen aus dem US-Geheimdienst hätten ihm 2003 mitgeteilt, dass das von Bashar al-Assad – dem Sohn von Hafiz al-Assad, der während der Nixon-Regierung mit Henry Kissinger zusammengearbeitet hatte – geführte Syrien zu einer der besten Informationsquellen Amerikas im Kampf gegen Al-Qaida geworden war.
Doch ironischerweise habe Syrien seit 1979 auf der Terrorismusliste des US-Außenministeriums gestanden und wurde von der Regierung unter George W. Bush als «Sponsor des Staatsterrorismus» angesehen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt sei das Land vom Weißen Haus öffentlich als Junior-Mitglied seiner berüchtigten «Achse des Bösen» bezeichnet worden, «während es der CIA wertvolle Informationen lieferte».
Hersh schreibt, dass ein Kontakt in Beirut zunächst ein Treffen mit Hassan Nasrallah, dem inzwischen von Israel ermordeten Anführer der Hisbollah, arrangierte.
«Nasrallah sagte mir damals – wir sprachen offiziell –, dass er Israel zwar für seine Behandlung der arabischen Gemeinschaft in Israel und anderswo hasse, aber jedes Friedensabkommen unterstützen würde, dem die arabische Welt zustimme.»
Es sei ein Interview mit Assad für ihn arrangiert worden, so der heute 87-jährige US-Journalist, «in seinem unprätentiösen Büro im Zentrum von Damaskus». Er habe von den zuverlässigen Informationen gewusst, die Assad der CIA zur Verfügung gestellt hatte, darunter Hunderte von Akten über die Mitglieder und Operationen von Al-Qaida.
«Es waren unschätzbare Informationen. Ich wusste auch, dass der syrische Geheimdienst Hunderte von Akten über die Männer hatte, die an den Anschlägen vom 11. September beteiligt waren, und, wie man mir in Washington erzählt hatte, viele Akten über diejenigen, die sich beteiligen wollten.»
Der syrische Geheimdienst habe die USA auch vor einem bevorstehenden Bombenanschlag der Al-Qaida auf das Hauptquartier der Fünften Flotte der US-Marine mit Sitz in Bahrain gewarnt. Assad habe aber nicht darüber sprechen wollen.
Hersh war nach eigenen Worten beeindruckt, als er erfuhr, dass Assad unter dem Druck der CIA den Namen des wichtigsten Agenten seiner Regierung innerhalb der Al-Qaida an die USA weitergegeben hatte. Die CIA hätte sich jedoch an eine Bedingung halten müssen: Sie durfte den Agenten nicht direkt anwerben.
Doch der US-Geheimdienst habe sich nicht daran gehalten und versucht, den Agenten anzuwerben, «vermutlich mit einem Haufen Geld». Die syrische Quelle habe aber den Anwerbungsversuch der USA zurückgewiesen und verärgert den Kontakt zu den syrischen Geheimdiensten abgebrochen. «Nettogewinn: minus eine fantastische Quelle.»
Der syrische Präsident habe gegenüber Hersh darauf bestanden, dass dieser kein Wort davon veröffentlichte – «über seine und Amerikas Indiskretionen – und das tat ich auch nicht. Aber ich war überrascht von seiner Bereitschaft, Amerika im Kampf gegen Al-Qaida zu unterstützen.»
Er habe erfahren, dass Israel gegenüber den von Assad bereitgestellten Informationen skeptisch blieb. Wenn Assad so viel über Al-Qaida gewusst habe, habe ein hochrangiger israelischer Diplomat erklärt, dann hätte er dies sicherlich schon vor den Anschlägen vom 11. September 2001 gewusst und dennoch nicht davor nicht gewarnt.
Hersh hatte demnach noch ein paar weitere Treffen mit Assad, als der Irakkrieg sich hinzog und die USA von der Jagd nach irakischen Massenvernichtungswaffen in Beschlag genommen worden sei, die Saddam Hussein irgendwo im Irak versteckt haben sollte. Die Treffen auf Einladung seien über den Kontakt zu Hisbollah-Chef Nasrallah zustande gekommen.
Er habe damals auch «von dem tiefen Hass und der Verachtung, die viele Syrer für Assad empfanden», erfahren, berichtet der US-Journalist. Er habe das unter anderem als Gast eines klassischen Konzerts im Hof eines eleganten Hauses in der historischen Altstadt von Damaskus miterlebt.
Als der syrische Präsident und seine Frau im letzten Moment eintrafen, sei ein Raunen der Enttäuschung und Missbilligung durch die Menge gegangen. Ein syrischer Freund habe ihm daraufhin von der enormen Verachtung für Assad in der Bevölkerung erzählt, weil dieser nicht bereit gewesen sei, die grassierende Korruption seiner Familie und die Inhaftierung und brutale Misshandlung von Dissidenten zu stoppen. Hersh weiter:
«Ich hatte den Präsidenten oft nach der Korruption in seiner Familie gefragt, und er beklagte sich immer wieder, dass er seine Onkel und Cousins in ihrem unstillbaren Geldhunger nicht aufhalten könne. Was die Inhaftierung von Dissidenten betraf, erklärte er, dass er ständig bei den internen Sicherheitsbehörden interveniere, um die Länge der Haftstrafen und die Misshandlungen in den Gefängnissen zu minimieren.»
Der Journalist erwähnt auch die nie bewiesenen Behauptungen Israels, Syrien baue an einer Atombombe. Im Jahr 2007 habe die israelische Luftwaffe ein entsprechendes Gebäude bei einem Bombenangriff zerstört, doch es habe sich bei der Anlage nicht um einen Reaktor gehandelt, sondern diese habe der Aufrüstung des syrischen Raketenarsenals gedient.
Es gebe ausführliche und genaue Berichte über das syrische chemische und biologische Arsenal, das unter Aufsicht der Vereinten Nationen zerstört wurde, aber kein Wort über ein syrisches Atomwaffenprogramm. Es sei unmöglich gewesen, «sich vorzustellen, was noch kommen würde: ein Bürgerkrieg, der 2012 begann und den Assad nur dank der Intervention Russlands und seiner Luftwaffe im Jahr 2015 überlebte».
Sechs Millionen Syrer seien aus dem Land geflohen, was in weiten Teilen Europas zu einer Flüchtlingskrise führte und gleichzeitig die Rolle der Alawiten stärkte, der religiösen Minderheit, der Assad angehört. Es habe «mehr Gefängnisse und mehr Folterungen der wachsenden politischen Opposition» gegeben.
Hersh lässt aber leider eine weitere bittere Ironie der Geschichte aus: Das CIA-Programm «Timber Sycamore», mit dem die bewaffneten Aufständischen in Syrien, meist Islamisten und Al-Qaida-Anhänger, ab 2012 nicht nur bewaffnet, sondern auch ausgebildet wurden. Das Programm hatte der damalige US-Präsident Barack Obama genehmigt. Laut New York Times wurden eine Milliarde Dollar dafür ausgegeben, bis das Programm durch Präsident Donald Trump 2017 beendet worden sein soll.
Bei seinem letzten Besuch in Damaskus Ende 2011 sei er zu einem Treffen mit Assad eingeladen worden, so Hersh. Damals habe es starke Gerüchte über eine mögliche Einigung mit Israel gegeben, die von dem türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdogan eingefädelt wurde.
Am Ende habe der russische Präsident Wladimir Putin dem einstigen CIA-Informanten Assad erlaubt, seine Frau und seine Kinder Ende November nach Moskau zu schicken, schreibt der US-Journalist.
«Der gedemütigte und verachtete syrische Präsident folgte ihnen zehn Tage später, gerade als das alte Damaskus, das durch den jahrelangen Bürgerkrieg entstellt war, stillschweigend in eine ungewisse Zukunft überging.»
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