Religiöser Wahn und Menschenverachtung – das führt anscheinend zu dem völkerrechtswidrigen Völkermord durch die israelische Führung und die israelische Armee IDF gegen die Palästinenser im Gaza-Streifen. Das macht der US-amerikanische Journalist Seymour Hersh (88) in seinem am Freitag veröffentlichten Text über «Die Logik eines ‹religiösen Rachekrieges›» (so der Titel) deutlich.
Der renommierte investigative Journalist macht auf die Ende letzten Monats von der israelischen Tageszeitung Haaretz veröffentlichten Berichte aufmerksam, wonach israelische Soldaten gezielt Palästinenser an Lebensmittelverteilstellen töten. Sie hatten demnach von einem hochrangigen Kommandeur den Befehl erhalten hatten, auf Bewohner zu schießen – also zu töten –, die sich vor den offiziellen Öffnungszeiten der Depots für Lebensmittel anstellten. Die Zeitung zitierte Zahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza, wonach seit der Eröffnung der Lager Ende Mai 549 Menschen durch israelische Kugeln getötet und mehr als 4000 verletzt worden seien.
Den Berichten nach handele es sich bei dem erwähnten hochrangigen Offizier um den Brigadegeneral Yehuda Vach, ein regionaler IDF-Kommandeur und Günstling von Premierminister Benjamin Netanjahu, so Hersh. «Das ist Vachs Politik», so ein IDF-Offizier gegenüber Haaretz, «aber viele der Kommandeure und Soldaten haben sie ohne Frage akzeptiert». Er sagte demnach außerdem, die Palästinenser «hätten nicht dort sein dürfen» – vor den offiziellen Öffnungszeiten der Lebensmittelzentren. Der US-Journalist dazu:
«Meinte er wirklich, dass die Hingerichteten selbst für ihren Tod verantwortlich waren?»
Er vertraue den Berichten der israelischen Zeitung, weil er 2024 erfahren habe, dass Vach, damals Oberst, Kommandeur der IDF-Truppen war, die den sogenannten Netzarim-Korridor im Gaza-Streifen bewachten, eine für dessen Bewohner gesperrte Zone, die den Norden und Süden Gazas trennt. Hersh hatte im Januar dieses Jahres berichtet, dass die jungen IDF-Soldaten, die dort als Wachen eingesetzt waren, den Befehl hatten, jeden Palästinenser zu erschießen, der sich auf der Suche nach Nahrung und Wasser näherte.
Die Berichte von Haaretz seien von den Mainstream-Medien in den USA nicht aufgegriffen worden, so der Journalist, mit Ausnahme von The Intercept, einer Online-Nachrichtenagentur. Er attestierte der israelischen Zeitung «viel Mut», die Dinge so zu schildern, wie sie sind – «ich weiß, dass dies in den frühen Tagen des Vietnamkriegs in den USA nur selten der Fall war».
Hersh hat nach eigenen Angaben ihm bekannte Israelis, meist ehemalige Militärs, nach ihrer Einschätzung der Lage befragt. Die Antworten würden erklären, warum Netanjahu und die religiösen Fundamentalisten in der israelischen Führung glauben, dass die Zeit für sie arbeitet, wenn es um die schwierige Frage geht, was mit den zwei Millionen noch lebenden Bewohnern Gazas geschehen soll.
Nach Angaben des Gesundheitsministerium in Gaza wurden seit Beginn des Krieges 56.900 Menschen im Gaza-Streifen getötet und 137.000 verletzt. Viele Demografieexperten seien überzeugt, dass diese Zahlen die tatsächliche Zahl der Toten und Verletzten in Gaza deutlich unterschätzen, so der Journalist.
Er habe «die üblichen unrealistischen Antworten» bekommen, schreibt er, «wie den Refrain, man müsse einen prominenten Palästinenser von außerhalb holen, um eine neue Regierung zu bilden, die von Saudi-Arabien, Ägypten oder Jordanien unterstützt würde». Als das entscheidende Problem sei benannt worden, «eine politische Alternative zur Hamas zu finden, die es sowohl Israel als auch den Vereinigten Staaten ermöglichen würde, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen».
Das klingt natürlich wie Hohn angesichts der Tatsache, dass gerade die islamistische Hamas von Israel lange Zeit noch unterstützt wurde, um «die Palästinenser zu spalten», wie selbst die Deutsche Welle berichtete. Aber was Dummheit zu sein scheint, folgt einem religiösen Wahn, der die Menschen im Gaza-Streifen nicht als Menschen sieht.
«Unterdessen geht der Krieg weiter», schreibt Hersh. Am Montag seien fünf israelische Soldaten getötet und 14 verletzt worden, zwei davon schwer, durch eine Reihe von ferngezündeten Straßenbomben im Norden Gazas, «die mit ziemlicher Sicherheit von Hamas-Aktivisten gezündet wurden». Das sei geschehen, als Netanjahu in Washington zu einem Treffen mit US-Präsident Donald Trump im Weißen Haus eintraf.
Laut einem Bericht der US-Zeitung New York Times über den Besuch drängt Trump auf einen Waffenstillstand, aber es gab keine konkreten Ankündigungen in dieser Richtung. Netanjahu habe nur erklärt, dass er Trump für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen habe. Hersh dazu: «Das einzig unpassendere wäre, wenn Trump dasselbe für den israelischen Premierminister tun würde.»
«Was mit den zwei Millionen Menschen in Gaza geschehen soll, die weiterhin in einer ungewissen Lage leben, ist nach wie vor unklar. Ein Plan, sie alle in drei große Lager zu verlegen, die von der israelischen Armee geschützt werden sollen, ist gescheitert, und ein weiterer Waffenstillstand in Gaza – angeblich vom Weißen Haus vorangetrieben – steht nicht ganz oben auf Netanjahus Agenda. In diesem Jahr gab es Gespräche darüber, die überlebenden Bewohner Gazas schließlich nach Somalia, Somaliland, Sudan, Syrien oder Indonesien umzusiedeln.»
Ein gut informierter Israeli habe ihm gesagt, der mangelnde Fortschritt in den Friedensgesprächen widerspiegele seiner Meinung nach die «Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben». Er habe außerdem gesagt, dass die israelischen Soldaten, die Palästinenser erschießen, die zu früh an Lebensmittelverteilungsstellen erscheinen, dies ebenfalls aus «Gleichgültigkeit» in einem Krieg tun, dessen Ende nicht abzusehen sei.
Pensionierte hochrangige IDF-Offiziere hätten ihm über den gewalttätigen General Vach erklärt, dass dessen Leidenschaft für das Töten von Arabern weithin bekannt sei. Ein pensionierter General habe gesagt, dass Vach «definitiv ein fauler Apfel» sei. Zugleich habe er aber beklagt, dass fünf israelische Soldaten getötet worden und alle «extrem angespannt» seien. Zumindest stellte er laut Hersh fest:
«Die Angst ist groß und berechtigt. Dieser Krieg muss aus humanitären und strategischen Gründen beendet werden.»
Ein anderer pensionierter Offizier habe ihm erklärt, General Vach sei ein Symbol für den Wertewandel in der IDF, der begonnen habe, als sie 1973 einen scheinbar verlorenen Krieg gegen Ägypten und Syrien, die von der Sowjetunion unterstützt wurden, in einen Sieg verwandelte. Der erfolgreiche Krieg habe viele jüdische Kinder aus Yeshivas (religiös-extremistischen Tora-Schulen – Anmerkung TG) und Synagogen, sich der Berufsarmee anzuschließen. Diese hätten bald die Kinder aus den Kibbuzim ersetzt, die bis Mitte der 1980er Jahre das Rückgrat der IDF gebildet hätten.
Die ersten alarmierenden Anzeichen hätten sich gezeigt, als die Frontkampfbataillone der IDF ihre eigenen Rabbiner bekamen. Das zweite Alarmsignal habe es während einer der ersten Razzien gegen die Hamas im Gazastreifen gegeben, als ein israelischer Oberst seiner Brigade den Befehl erteilte, «den Krieg Gottes zu führen. Vernichtet den gotteslästerlichen Feind, wie wir Amalek vernichtet haben». (Die Amalekiter waren ein Nomadenstamm, der in der Bibel als Feind der Israeliten während ihres Auszugs aus Ägypten bezeichnet wird – Anmerkung Hersh). Der US-Journalist zitiert seinen Gesprächspartner:
«Von da an ging es nur noch weiter und viel extremer. Der mörderische Angriff der Hamas innerhalb Israels am 7. Oktober 2023 wurde von den Zionisten als Weckruf und Wunder und als eine Prüfung analysiert, die der allmächtige Gott allen Israelis auferlegt habe, damit sie religiös werden.»
General Vach sei «nur einer von vielen». Der Krieg der IDF in Gaza werde als «religiöser Rachekrieg gegen ‹Amalek› geführt und durchgeführt». Netanjahu habe sich in seiner Verzweiflung, im Amt zu bleiben, vollständig der extremen Rechten angeschlossen, die ihn an der Macht halte, stellt Hersh fest. Sein Fazit:
«All dies deutet darauf hin, dass nach mehr als anderthalb Jahren des Gemetzels und des Hungers das Schlimmste für die bedrängten Palästinenser in Gaza noch bevorstehen könnte.»
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