Hier ist Teil 1 zu lesen
Transition News: Welche Rolle spielt die westliche Politik? Sie fordert zwar Waffenstillstand und Verhandlungen, liefert aber weiter Waffen und Geld an Israel. Warum stoppt Washington Tel Aviv nicht einfach aufgrund seines großen Einflusses?
Moshe Zuckermann: Weil Washington geopolitisch kein wirkliches Interesse daran hat. Die USA waren nie wirklich darüber bekümmert, ob sich Israelis und Palästinenser (beziehungsweise Araber insgesamt) gegenseitig niedermetzeln, solange ihre Interessen in der Region nicht tangiert wurden. Sobald ihre Interessen vom Konflikt berührt waren (etwa nach dem Golfkrieg von 1991), vermochten sie sehr wohl Israel gemäß ihren Bestrebungen unter Druck zu setzen. Hinzu kommt, dass Joseph Biden sich in der Endphase seiner Amtszeit als «Lame Duck» erweist, so dass sich Netanjahu (in perfidester Undankbarkeit) leisten kann, dem US-Präsidenten den Gehorsam zur verweigern. Das würde sich mit Kamal Harris vermutlich ändern können, aber sie befindet sich im Wahlkampf. Netanjahu zählt auf die Wiederwahl Donald Trumps. Das heißt also, der Einfluss der USA auf Israels Regierungsspitze ist gegenwärtig beschränkt, ganz abgesehen davon, dass die Amerikaner beim Kampf Israels gegen den Iran rein interessenmäßig auf Seiten der Israelis stehen.
Prof. Moshe Zuckermann 2018 in Berlin (Foto: Tilo Gräser)
In der gegenwärtigen israelischen Regierung sitzen radikale religiöse Fanatiker wie Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit. Er schütze im Kabinett jüdische Terroristen, schrieb die israelische Zeitung Haaretz. Er gehört der als Partei verbotenen rechtsextremen Kahane-Bewegung an, die Haaretz als «Israels jüdische Dschihad-Organisation» bezeichnet hat. Welchen Einfluss haben diese Leute auf die Politik der Regierung?
Diese Frage habe ich bereits oben (siehe Teil 1, Anm. d. Red.) beantwortet. Hinzugefügt sei aber: Es geht nicht nur um den Einfluss auf die Politik der israelischen Regierung, sondern um die Legitimation, die die Ideologie dieser Faschisten inzwischen erfahren hat. So besehen, begreife ich die Politgestalt Itamar Ben-Gvirs eher als Symptom einer Entwicklung und weniger als politische Ursache dieser Entwicklung. Es lässt sich nicht bestreiten: Israel ist schon seit Jahren ein Apartheidstaat (zumindest in den von ihm beherrschten besetzten Gebieten). Der dieser Tatsache zugrunde liegende Rassismus sowie der ihn beflügelnde messianische Faschismus sind inzwischen in den israelischen Alltag eingedrungen und in ihm gewuchert. Das sind mittlerweile keine vernachlässigbaren Randerscheinungen mehr, sondern ein nicht mehr zu ignorierender Bestandteil der israelischen politischen Kultur, die mittlerweile auch die innerjüdischen Konfrontationskoordinaten stark verändert haben.
Manche israelische Experten werfen Premierminister Netanjahu vor, den Krieg in Gaza und an den anderen Fronten unnötig zu verlängern, um seine politische Macht beizubehalten. Wie beurteilen Sie das? Warum zeigt sich die israelische Militärführung als willfährige Vollstreckerin einer extremistischen Regierung?
Wie ich schon oben anzeigte, halte ich diesen Vorwurf für absolut gerechtfertigt. Ich glaube nicht, dass jemand ernsthaften Zweifel an ihm hegen kann. Netanjahu ist der perfideste, korrupteste, verlogenste und demagogischste Premier, den Israel je hatte. Die Militärführung, die sich teilweise als Opposition gegen ihn geriert hat (so etwa Verteidigungsminister Yoav Gallant), sitzt aber in einem Boot mit ihm: Sie war nicht minder als er schuld am Desaster des 7. Oktobers, und versucht nun, sich wenigstens militärisch zu rehabilitieren. Zudem kann eine Armee, zumal während eines laufenden Krieges, sich nicht einem Regierungschef, dem sie legal untersteht, entgegenstellen, ohne einen Militärputsch zu riskieren. Aber man muss auch ehrlich sagen: Militärmenschen denken nun mal zumeist militärisch, und wenn der Militarismus des Premiers (wie der vieler Bürger Israels) sich als dem des Militärs kompatibel erweist, gibt es keinen Grund, warum die Militärführung nicht als Vollstreckerin der ihr genehmen Politik der (wie immer extremistischen Regierung) fungieren sollte.
Israel wird international nur vom US-geführten Westen unterstützt, wenn auch da immer weniger. Frankreich will die Waffenlieferungen stoppen. International ist Israel isoliert, wie die jüngste UN-Generalversammlung gezeigt hat. Es gibt die Klagen vor dem Internationalen Gerichtshof, internationale Haftbefehle gegen Netanjahu und andere. Doch die israelische Führung ignoriert all das und setzt ihren Kurs anscheinend unbeirrt fort, wider jegliches Völkerrecht. Wie ist das zu erklären? Warum ist das so?
Unbeirrt würde ich nicht sagen; ich glaube schon, dass nicht wenige in der politischen Sphäre Israels zumindest irritiert sind. Warum man sich nicht anders, als zu erwarten wäre, realiter verhält, haben wir ja versucht, in diesem Gespräch zu erörtern. Zu fragen bleibt jedoch, wie dieser Paria-Status, den Israel mittlerweile in der Welt erlangt hat, in der israelischen politischen Kultur rationalisiert beziehungsweise ideologisiert wird. Und da lässt sich ein Muster anführen, das die politische Kultur des zionistischen Staates von Anbeginn durchzieht: Im Selbstverständnis von Politikern, Medienleuten und vielen in der Bevölkerung steht Israel allein in der «Welt» und hat die gesamte «Welt» gegen sich. Die griffbereite Begründung dafür ist, dass die «Welt» nun mal antisemitisch sei – zuletzt auch in Netanjahus Rede vor der UN-Vollversammlung polemisch angeführt. Es wirkt da ein mittlerweile verdinglichter Rest des Andenkens an historischer jüdischer Leiderfahrung, der längst schon zum Fetisch fortwährender Selbstviktimisierung geronnen ist. Und je brutaler Israel seinen Feinden gegenüber auftritt, desto mehr ist man (im Selbstbild) «Opfer». Der Spruch von Golda Meir seinerzeit, sie werde den Palästinensern nie verzeihen, dass diese sie gezwungen haben, sie zu töten, kann da in der Tat zum Paradigma der israelischen Ideologie erhoben werden.
Welche Rolle spielt die israelische Friedensbewegung? Im deutschsprachigen Raum ist wenig von ihr zu hören, was aber an einer Medienignoranz liegen kann. Es gibt in Deutschland die «Jüdische Stimme für Frieden», die gegen den Völkermord an den Palästinensern protestiert. Ähnliches ist aus den USA bekannt. Gibt es ähnliche Gruppen in Israel?
Die israelische Friedensbewegung hat sich infolge der zweiten Intifada vor rund 25 Jahren in den Winterschlaf begeben, aus dem sie nicht wieder erwacht ist. Es gibt in Israel keine parlamentarische Opposition, die einen Friedensweg zu begehen bereit wäre, und selbst wenn es sie verborgen geben sollte (was ich bezweifle), wird sie sich hüten, ihre Friedenbestrebung öffentlich zu artikulieren. Von Frieden redet heute niemand in Israel, schon seit langem nicht, aber erst recht nicht nach dem 7. Oktober. In Israel gibt es einige kleine der «Jüdischen Stimme für Frieden» vergleichbare außerparlamentarische Gruppen, aber sie sind ziemlich randständig, öffentlich kaum präsent und stellen entsprechend keine «Bedrohung» für die herrschende politische Ideologie im Land da. Ich schätze und unterstütze, was diese Gruppen unter schwierigsten Bedingungen leisten, aber sie zeitigen keinerlei Wirkung im israelischen Diskurs. Man darf sich vor allem nicht täuschen lassen: Dass viele in der israelischen Bevölkerung Netanjahu hassen, besagt nicht, dass sie für den Frieden sind. Darin kann sich Netanjahu auf das Gros der jüdischen Bevölkerung des Landes verlassen.
Die israelische Journalistin Noa Landau sieht am Ende dieses «Jahres der Verzweiflung» einen «Hoffnungsschimmer». In einem Meinungsbeitrag in Haaretz stellte sie kürzlich fest, dass die israelische Öffentlichkeit die Regierung Netanjahu weiterhin ablehnt. Ist das so? Wie sehen Sie das? Welche Hoffnung haben Sie?
Ja, ich habe den Artikel von Noa Landau gelesen, aber ich weiß, offen gestanden, nicht, worauf sie ihren (wenn auch kleinen) Optimismus stützt. Netanjahu, gegen den man schon in den neuen Monaten vor dem 7. Oktober angesichts des von ihm als «Justizreform» ausgegebenen versuchten Staatstreichs massiv demonstrierte, und ihn infolge der von ihm verantworteten Katastrophe des 7. Oktobers für «erledigt» hielt, hat sich im Jahr des Krieges merklich erholt, er ist erstarkt, beherrscht noch immer seine Koalition, die er mit nachgerade korrupten Maßnahmen zu nähren versteht, und wird neuerdings in den Erhebungen als der fähigste Kandidat für den Premierministerposten ermittelt. Solange sich die Regierungskoalition erhält, ist es nicht sonderlich relevant, ob man sie ablehnt. Wieso also «Hoffnungsschimmer»? – frage ich als jemand, der Noa Landaus Beiträge für gewöhnlich sehr schätze. Ich kann mir das nur damit erklären, dass die Verzweiflung dermaßen groß ist (unter jenen, die verzweifelt sind), dass man sich mit aller Gewalt an einem wie immer winzigen Hoffnungsschimmer klammern zu sollen meint. Hoffnung ist eine Sache, Realität sehr oft eine ganz andere. Ich hege momentan keine Hoffnung, kaue nur leidvoll an der Realität herum.
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Professor Moshe Zuckermann (Jahrgang 1949) wuchs als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel im Jahr 1970 studierte er an der Universität Tel Aviv, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas lehrte und das Institut für deutsche Geschichte leitete. Im Westend-Verlag erschien zuletzt sein mit Moshe Zimmermann gemeinsam verfasstes Buch „Denk ich an Deutschland ... Ein Dialog in Israel“ (2023).
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