Die Schuld von gestern,
die nicht aus der Welt
zu reden ist, wird nicht
mächtig genug sein,
unsere Völker vom
Wagnis der Versöhnung abzuhalten.
Willy Brandt, 1973
Liebe Leserinnen und Leser
Die zitierte Aussage von Willy Brandt stammt aus dem Jahr 1973, als die BRD mit der ČSSR den «Prager Vertrag» abschloss. Das war die Grundlage, um die Beziehungen zwischen beiden Ländern fast 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und trotz Systemunterschieden zu normalisieren.
Diese Worte das damaligen Bundeskanzlers aus der SPD gehören in die Reihe der Aktivitäten Brandts für Frieden und Entspannung, für die er 1971 den Friedensnobelpreis erhielt – als erster und bisher einziger Deutscher. Dazu gehört auch sein Kniefall in Warschau 1970 am Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos.
Bis heute fehlt eine ähnliche Geste eines bundesdeutschen Politikers gegenüber den Opfern des faschistischen deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 und dem damit in Gang gesetzten Vernichtungskrieg. Der forderte nach heute bekannten Angaben bis zu 27 Millionen Tote unter den Völkern der Sowjetunion – dabei handelt es sich um nicht weniger als das größte Verbrechen der Menschheit, über das so wenig gesprochen wird.
Heute fehlen solche Politiker wie Brandt, dessen politische Nachfahren wie der derzeitige SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil Russland nicht als «seriösen Partner» ansehen will, «solange sich in Russland nichts fundamental ändert». Klingbeil erklärte 2022 unter anderem:
«Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten haben wir oft das Trennende übersehen. Das war ein Fehler.»
Der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD) und die Politikwissenschaftlerin Petra Erler schreiben in ihrem aktuellen Buch «Der lange Weg zum Krieg» dazu:
«Mit diesem Denken fällt die führende deutsche Regierungspartei buchstäblich in die Steinzeit zurück und entsorgt ihre eigenen Erfahrungen und historischen Beiträge zum Entspannungsprozess gleich mit.»
Dazu gehört aber auch, dass Klingbeils Aussagen eine noch ältere sozialdemokratische Tradition fortsetzen, die mit dem Ja zu den Kriegskrediten 1914 und dem «Bluthund» Gustav Noske 1919 begann. Es bleibt tragisch, was bundesdeutsche Politiker sich derzeit gegenüber Russland leisten, als wolle sich der Verlierer des Vernichtungskrieges am Sieger endlich rächen, worauf er Jahrzehnte warten musste.
Dabei wird die eigene, fast unermessliche Schuld vergessen oder übersehen, von der Brandt einst sprach. Weggewischt wird dabei auch, dass die Menschen in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten bereit zur Versöhnung waren.
Sie sind es immer noch, wie ich beim Besuch in Russland Anfang Mai selbst erlebt habe. Deshalb empfinde ich die derzeitige deutsche Politik gegenüber Russland als eine Schande, die durch nichts zu begründen und zu entschuldigen ist, auch nicht durch die Kritik am russischen Vorgehen in der Ukraine.
Bundesdeutsche Politiker haben sich nicht mit ernsthaften Versuchen hervorgetan, zu verhindern, dass aus dem Konflikt in und um die Ukraine ein Krieg wird, der nun schon im dritten Jahr tobt. Dafür tun sie sich nur hervor mit Schuldzuweisungen und Anklagen gegen Moskau samt eifrig erfüllter Sanktionen und Waffenlieferungen an Kiew.
Und wenn ein Politiker wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sich auf eine Friedensmission nach Kiew und Moskau begibt, fällt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nichts weiter ein, als zu betonen, dass Orbán nicht für die EU spricht. Ungarn hatte mit dem 1. Juli die alle sechs Monate rotierende EU-Ratspräsidentschaft übernommen – und sein Ministerpräsident hatte ausdrücklich erklärt, dass er die Reisen als private Initiative macht.
Brandt und seine Mitstreiter wie Egon Bahr, Albrecht Müller und andere wussten, dass Frieden nur durch Dialog und Verständigung möglich ist, gerade angesichts eines drohenden möglichen Nuklearkrieges, der das Ende der Welt bedeuten würde. Nichts davon war falsch oder ein «Fehler» wie der heutige SPD-Chef Klingbeil meint.
Frieden gibt es nur, wenn miteinander gesprochen wird, ohne das Trennende zu ignorieren, ohne es dominieren zu lassen. Den Wunsch nach Frieden haben alle gemeinsam, wie auch bis heute die Angst vor einem Nuklearkrieg – oder werden wir von Menschen regiert, die diese Angst nicht mehr kennen?
Die Frage, ob eines Tages eine Rückkehr zur Versöhnung wieder möglich ist, kann ich nicht beantworten. Das gilt für das Verhältnis des Westens zu Russland ebenso wie für das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine, wenn der Krieg endlich beendet ist.
Nur eines ist klar: Ohne Versöhnung wird es keinen wirklichen Frieden geben. Doch dafür müssen alle etwas tun und das nicht nur jeweils von der anderen Seite einfordern.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein friedvolles Wochenende soviel viel Lesespaß und Wissensgewinn mit den Beiträgen auf Transition News.
Herzliche Grüße
Tilo Gräser
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