«Man muss erkennen, welche Bedeutung die Türkei als Teil der NATO hat.
Noch immer ist das Land ein Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft»
Der damalige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 12.12.2020
in der Neuen Züricher Zeitung.

Liebe Leserinnen und Leser

Am 22. August 1922 verließ ein Boot die kleinasiatische Küste. Das Ziel war die Insel Lesbos. An Bord ein sieben Tage alter Säugling aus der kleinen Stadt Phokaia (griechisch Φώκαια, türkisch Foça) in der Nähe von Smyrna an der kleinasiatischen Küste. Phokaia wie auch Smyrna waren seit dem Altertum mehrheitlich griechisch besiedelt. Man musste vorsichtig sein, durfte nicht auf sich aufmerksam machen. Die türkischen Truppen rückten vor und sollten am 9. September Smyrna erreichen. Schreit das Kind noch einmal, dann muss es ins Meer geworfen werden, hieß es auf dem Weg zum Hafen unter dem Schutz der Nacht.

Das Mädchen, soeben in der Heimat frühzeitig und notfallmäßig getauft durch den später durch die Türken auf bestialische Weise ermordeten Erzbischof Chrisostomos von Smyrna, wurde ruhig und das Boot mit den Smyrnagriechen an Bord erreichte das rettende, griechische Ufer unversehrt. Das Mädchen wuchs in einer ärmlichen Flüchtlingsunterkunft in Athen auf, wurde eine junge Frau und musste im Zweiten Weltkrieg wiederum vor den Schergen Hitlers und vor dem Hunger flüchten. Ich durfte die Frau in den frühen Neunzigerjahren kennenlernen. Ihre Erzählungen zeigten mir bildhaft, wie und warum sich das, was heute als Kleinasiatische Katastrophe bekannt ist, ins kollektive Gedächtnis der Griechinnen und Griechen eingebrannt hat.

Zunächst deutete nichts auf eine Katastrophe hin: Smyrna, eine multikulturell geprägte Stadt an der kleinasiatischen Küste, war Anfang des 20. Jahrhunderts ein wirtschaftliches Zentrum und Heimat vieler Griechen, Armenier und Sepharden. Die Stadt war friedlich, wohlhabend und geprägt von einem Nebeneinander europäischer und orientalischer Einflüsse.

Mit dem Ersten Weltkrieg begann jedoch der Zerfall des Vielvölkerstaats Osmanisches Reich. Es folgten Völkermorde, insbesondere an der armenischen Bevölkerung, sowie Vertreibungen von Minderheiten. Nach Kriegsende 1918 war Griechenland als Siegermacht im Vorteil: Es besetzte 1919 Smyrna, was 1920 im Vertrag von Sèvres offiziell anerkannt wurde. Die Türkei – unter der Führung Atatürks – akzeptierte dies nicht und mobilisierte zum Widerstand.

Die griechische Armee drang ins Landesinnere vor, wurde jedoch 1922 vernichtend geschlagen. Am 9. September eroberten türkische Truppen Smyrna, woraufhin Massaker an der griechischen und armenischen Zivilbevölkerung folgten. Das Mädchen, von dem eingangs die Rede war, hatte aufgrund von Warnungen, die an seine Familie ergangen waren, bereits die rettende Insel Lesbos erreicht, als die türkischen Truppen bereits in den ersten Tagen mehr als 40.000 griechische und armenische zivile Einwohner von Smyrna ermordeten und das griechische und das armenische Viertel der Stadt brandschatzten. Große Teile der Stadt brannten nieder. Erst am 22. September evakuierten alliierte und griechische Schiffe etwa 150.000 Überlebende. Auf den Ruinen des zerstörten Smyrna entstand das heutige Izmir.

Die Folgen waren verheerend: Im Vertrag von Lausanne 1923 wurde ein sogenannter «Bevölkerungsaustausch» vereinbart – eine Zwangsumsiedlung von rund 1,25 Millionen Griechen und 500.000 Türken. Griechenland sah sich mit einer massiven Flüchtlingswelle konfrontiert. Der Vertrag machte ethnische Säuberungen politisch akzeptabel und beeinflusste mutmaßlich spätere Vertreibungen im 20. Jahrhundert – ebenso wie der ungesühnte Genozid an den Armeniern.

Bis heute fehlt eine kritische Aufarbeitung dieser Ereignisse. Stattdessen herrscht internationale Gleichgültigkeit: Deutschland liefert U-Boote, die USA heben Waffenembargos auf – im Tausch gegen politische Zugeständnisse der Türkei.

Ich habe am Montag darüber berichtet, dass es seit den Zeiten Bismarcks eine außenpolitische Kontinuität der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei gibt, einem Staat, der bis heute den Genozid an den Armeniern leugnet, die Vertreibung der Smyrnagriechen verharmlost und die jüngste Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach unterstützte und förderte. Und seit dieser Woche sitzt im deutschen Außenministerium eine Staatssekretärin mit türkischen Wurzeln, der intensive Verbindungen zu türkischen Nationalisten und entsprechenden Lobbynetzwerken nachgesagt werden.

Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, auf welchem Planeten Stoltenberg lebt.

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Daniel Funk

Erklärung über die Interessenbindung des Autors: Meine Ehefrau ist smyrnagriechischer Abstammung.

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