Alles ändert sich,
nur der Tango nicht.
Argentinisches Sprichwort
Liebe Leserinnen und Leser
Momentan ist immer noch die meiste mediale Aufmerksamkeit auf die USA und Donald Trumps Personalentscheidungen gerichtet. Dicht gefolgt vom Ampel-Aus in Deutschland und der Frage, wer wohl dort als nächstes Kanzler- und Ministerposten einnehmen wird. In beiden konkreten Fällen sowie generell ist jedoch Vorsicht geboten: Wer heute noch als Alternative gehandelt wird, kann sich morgen schon als trojanisches Pferd oder auch einfach nur als Enttäuschung erweisen.
Ein Land, das wir hierzulande eher weniger im Blick haben, ist Argentinien, über das wir jedoch auch regelmäßig berichten, zum Beispiel hier und hier. Zu dessen aktuellem Präsidenten und der Situation im Land ist gerade ein Interview auf Multipolar erschienen, das auch auf Spanisch verfügbar ist.
Camilla Hildebrandt sprach mit dem argentinischen Journalisten und Universitätsdozenten Ernesto Lamas über die jüngsten Proteste im Land und die rasant gestiegene Armut. Dazu ein paar Zahlen:
«(...) wir Hochschullehrer haben in diesem Jahr zwischen 50 und 70 Prozent unseres Einkommens eingebüßt, da die Inflation seit dem Amtsantritt Javier Mileis einen Prozentsatz erreicht hat, der die Gehaltserhöhungen, die wir bekommen haben, weit übersteigt. In einem Bericht der Lehrergewerkschaft heißt es, dass derzeit 60 Prozent der Lehrkräfte an öffentlichen Universitäten ein Gehalt unterhalb der Armutsgrenze beziehen, was in den letzten 20 Jahren nicht der Fall war.»
Diese Zahlen sollten sich all jene auf der Zunge zergehen lassen, die in dem selbsterklärten Anarchokapitalisten und Ultra-Libertären Milei einen «Befreier» respektive «Kämpfer für die Freiheit» sehen. De facto herrscht unter seinem Regime gerade eine brutale Austerität sowie eine Einschränkung von Grundrechten, wie Lamas weiter berichtet:
«Vielen Menschen fällt es schwer zu demonstrieren, weil sie befürchten, dass sie Repressionen ausgesetzt sein könnten oder inhaftiert werden. Dies war in den letzten zehn Monaten eine gängige Praxis. (...) In Argentinien ist die Erinnerung an die Militärdiktatur noch sehr lebendig, die ich natürlich nicht mit dieser Regierung vergleiche, die demokratisch gewählt wurde, aber die das Recht auf Protest, ein Grundrecht, beschneidet und auch die Arbeit des Journalismus einschränkt, was ein weiteres Grundrecht ist – die freie Meinungsäußerung. Es hat lange gedauert, die Ausübung dieses Rechts zu erlangen.»
Das klingt nun ganz und gar nicht nach Freiheit, wie auch immer man diesen Begriff definieren mag. Darauf verweist aktuell auch Tom-Oliver Regenauer in einem hörenswerten, wenn auch sehr langen Interview, das noch tief in viele weitere Themen hineinführt. Hermann Ploppa hat bereits vor einem knappen Jahr ebenfalls ausführlich über Milei recherchiert und berichtet.
Die wechselhafte argentinische Geschichte, insbesondere der letzten gut 150 Jahre, ist indessen ohnehin nur schwer mit unseren Begriffen von «links» und «rechts» zu fassen und zu beschreiben. Zu widersprüchlich erscheinen da so manche Entwicklungen und Regime. Die Militärdiktatur von 1976 bis 1983 ist das wohl dunkelste Kapitel darunter.
Beim Blick auf Argentinien empfehle ich daher, nicht die dortige Politik zum Vorbild zu nehmen, auch und schon gar nicht so eine Figur wie Milei. Sondern – Sie ahnen es wahrscheinlich – den Tango. Dieser war während der Militärdiktatur übrigens verboten – bevor es dann in den 80er Jahren zu einer Renaissance kam. Anders als das Eingangszitat besagt, ändert sich nämlich auch der Tango. Aber er bleibt und überdauert auch die widrigsten Umstände, mittlerweile fast auf der ganzen Welt.
Herzliche Grüße
Susanne Schmieden