«In der Politik ist das größte Risiko, den Wandel zu ignorieren und das Volk zu unterschätzen.»
Charles de Gaulle (zugeschrieben)
Liebe Leserinnen und Leser
Der Sommer 1989 war von einer längeren Hitzeperiode geprägt. Außerdem folgte er auf einen sehr milden Winter. Ich war damals in einem Wiederholungskurs der Schweizer Armee im jurassischen Bure an der französischen Grenze. Innenpolitisch war das Jahr durch die Auseinandersetzung um die Initiative für eine Schweiz ohne Armee geprägt. Im November würde der Urnengang stattfinden und bei einem Ja hätte die Schweiz sofort keine Armee mehr.
Ich war als Funker in einer Panzertruppe eingeteilt und musste an diesem Tag weit verstreute Funkstationen versorgen. Ich war zeitlich etwas im Rückstand und fuhr mit dem Pinzgauer Geländefahrzeug etwas zügig über die (nicht asphaltierte) Panzerpiste. Da es lange nicht mehr geregnet hatte, wirbelte ich tüchtig Staub auf. Als ich bei meinem ersten Versorgungsposten ankam, sah ich, dass daneben ein Zug Soldaten in Achtungsstellung verharrte. Ein Major redete auf sie ein, daneben stand der Leutnant und Zugführer.
Als der Major mich sah, trat er auf mich zu. Den Zug des Leutnants ließ er in der brennenden Sonne in Achtungsstellung stehen. Da der Winter mild war, gab es jede Menge Wespen. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie diese einige der Soldaten umkreisten und mindestens einen auch stachen. Diese durften sich wegen der Achtungsstellung der Wespen nicht erwehren.
Ich musste mich beim Major anmelden, worauf dieser mich in unflätigen Worten lauthals zusammenstauchte, was mir eigentlich einfallen würde, so zu fahren – ich hatte aber kein Reglement verletzt.
Völlig überraschend für ihn gab ich ihm Kontra: Er solle nur so weiterfahren und dann würde es an der Urne bei der Abstimmung über die Armeeabschaffung eine böse Überraschung absetzen, sagte ich lauthals, so dass es alle hörten. «Sie können sich abmelden,» schnappte der Major.
Nun kam Leben in den Leutnant und er hieß die Soldaten, in Ruhn-Stellung zu gehen. Jetzt konnte sie die Wespen verjagen – nach zwei Wespenstichen und einem Soldaten, der im letzten Moment umgekippt war. Ich stieg in mein Fahrzeug und brauste davon. Am Abend hatten wir Ausgang – der fragliche Zug lud mich ein und bezahlte mir Essen und Trinken.
Außenpolitisch war in diesem Sommer bereits Donnergrollen zu hören. Die Umwälzungen in Osteuropa kündigten sich an. In Polen gab es bereits eine Mehrparteienregierung. Die Abstimmung war am 26. November, in einer Zeit, in der ich die ganze Zeit am Radio hing und Zeitung las – der Umbruch in Osteuropa war in vollem Gang.
Das ganze Politestablishment erwartete mit einer großen Selbstsicherheit und Selbstverständlichkeit eine wuchtige Ablehnung der von friedenspolitischen Kreisen getragenen Initiative. Am Abstimmungstag kam aber die Überraschung: Ein Drittel der Stimmbevölkerung stimmte für die Abschaffung der Armee. Die militärische Führung war zu selbstsicher, zu arrogant und hatte die Stimmung in der Bevölkerung völlig falsch eingeschätzt.
Die politische Auseinandersetzung um die Neutralität und die Neutralitätsinitiative erinnert mich entfernt an das Jahr 1989. Auch jetzt gibt es außenpolitische Verwerfungen, allerdings weniger erfreulicher Art als 1989. Auch heute verfolgt das politische Establishment der Schweiz mit großer Selbstsicherheit einen Kurs und lässt sich nicht gerne reinreden. Sie versucht, unser Land scheibchenweise an die NATO anzunähern. Von einer Mitgliedschaft wird (offiziell noch) nicht geredet; diese an die Urne zu bringen – ein Volks- und ein Ständemehr wären obligatorisch –, wäre ein Selbstmordkommando.
So versucht man, die Neutralitätsbefürworter bei Podien auszuschließen, um ihnen möglichst keine Plattform zu geben. Und die Leitmedien bezeichnen das Volksbegehren als von der SVP lanciert (was nicht stimmt) und diffamieren sie als «Pro-Putin-Initiative» (was reine Polemik ist). Die Initiative wird im Parlament aber immerhin so ernst genommen, dass nun ein Gegenvorschlag zur Diskussion steht.
Die Diskussion kommt jetzt auch in Österreich in Gang. Wir haben heute einen aktuellen Beitrag dazu publiziert. Auch in Irland regt sich Widerstand gegen den NATO-Annäherungskurs (siehe hier und hier).
Einen weiteren Übersichtsartikel zur Schweizer Neutralität habe ich hier publiziert – und eine ganze Artikelserie (zum Beispiel hier) lässt sich ebenfalls finden.
Die Diskussion wird sich im Herbst intensivieren, wenn der Gegenvorschlag in den Zweitrat kommt; aber bis zur Abstimmung im nächsten Jahr dauert es noch etwas. Und vielleicht unterschätzt ja das Establishment die Neutralitätsinitiative genauso wie damals die Armeeabschaffungsinitiative. Es wäre zu hoffen.
Bleiben Sie uns, geneigte Leserin, geneigter Leser, gewogen!
Daniel Funk
Erklärung zur Interessenbindung: Ich bin Vorstandsmitglied der Bewegung für Neutralität.
***********************
Herzlichen Dank an alle, die Transition News treu unterstützen und damit unsere Arbeit und Unabhängigkeit erst ermöglichen!
