Transition News: Lieber Daniel Shek, auf der Website des Hostages and Missing Families Forum heißt es: Die wichtigste Aufgabe sehe man darin, «alle [von der Hamas verschleppten] Geiseln mit allen erforderlichen Mitteln und über alle verfügbaren Kanäle nach Hause zu bringen». In der deutschen Zeitung Welt etwa liest man: Beim Angriff auf Israel seien nach offiziellen Angaben 1197 Menschen getötet und 251 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt worden. 111 Geiseln würden immer noch dort festgehalten. Welche Informationen haben Sie?
Daniel Shek: Insgesamt hält die Hamas noch 115 Geiseln gefangen. Denn zu den 111 kommen noch vier dazu, die nicht am 7. Oktober, sondern schon vorher in Geiselhaft geraten waren. Wir setzen uns aber für alle ein.
39 von ihnen seien, wie es in dem Welt-Artikel weiter heißt, offiziellen Angaben zufolge bereits tot. Dem Wall Street Journal zufolge sind es sogar mehr als 60, die nicht mehr am Leben sind. Was wissen Sie darüber?
Ich weiß mit Sicherheit, dass 41 tot sind. 41 sind bestätigt tot. Bei allen anderen gehen wir davon aus, dass sie noch am Leben sind, auch wenn wir es nicht sicher wissen.
Wie gehen die Angehörigen der Geiseln mit der schier ausweglosen Situation um?
Ich denke, Sie können sich ausmalen, was in den Angehörigen vorgeht. Seit nunmehr zehn Monaten, ja, seit mehr als 300 Tagen verharren sie in der Erwartung, dass ihre Familienmitglieder – Eltern, Töchter, Söhne, Brüder, Schwestern, Ehepartner, Großeltern – freigelassen werden. Für sie ist die Situation sehr, sehr schwierig. Im Grunde ist das Leben dieser Menschen am 7. Oktober zu Bruch gegangen.
Deshalb gibt es unsere Organisation: um die Betroffenen dabei zu unterstützen, mit diesem Trauma klarzukommen. Dabei vertreten wir auch ihre Interessen. Das geht so weit, dass wir beim Präsidenten der Vereinigten Staaten unser Anliegen vorbringen.
Daniel Shek im Hauptquartier des Hostages and Missing Families Forum in Tel Aviv. Im Hintergrund hängen Fotos von noch in Geiselhaft der Hamas befindlichen Personen. Foto: Torsten Engelbrecht
Ein Plakat mit einem Foto von einer der Geiseln außen am Gebäude des Hauptquartiers des Hostages and Missing Families Forum. (Um das Video zu starten, einfach auf das Bild klicken.) Foto: Torsten Engelbrecht
Am Samstag hat das Hostages and Missing Families Forum sogar eine Kundgebung vor dem Haus des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant organisiert. Damit wollten die Familien der Geiseln und Unterstützer nochmal ganz besonders ihrem Unmut darüber, dass die Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln de facto keine Fortschritte machen, Ausdruck verleihen. Gallant habe daraufhin Vertreter der Familien zu einem Treffen in sein Haus eingeladen, wie es in einer Mitteilung von Ihrem Forum heißt. Und er habe versichert: «Ich setze mich dafür ein, dass alle Geiseln, sowohl die lebenden als auch die verstorbenen, zurückgebracht werden. Daran arbeite ich jeden Tag.» Welches konkrete Ergebnis ist dabei herausgekommen?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nicht, was das Ergebnis ist. Wenn man demonstriert, hat man nicht sofort ein Ergebnis. Wir versuchen, Druck zu erzeugen. Und zu demonstrieren, ist ein Mittel dafür.
Aber was Gallant da von sich gibt, klingt wie das, was Israels Premierminister Benjamin Netanyahu kürzlich zu US-Präsident Joe Biden sagte, nämlich dass man «Fortschritte macht bei den Verhandlungen» – woraufhin Biden erwiderte: «Hören Sie auf, mich zu verarschen.» Und nicht nur die regierungskritische Zeitung Haaretz ist der Auffassung, dass die Ermordung von Israels Feinden, wie der des Hamas-Chefs Ismail Haniyeh, der Geiselfreilassung zuwiderläuft (Transition News berichtete), sondern sogar Biden meint, dass dies nicht hilfreich sei, um die Gemengelage zu verbessern. Was also sollen wir von Gallants Worten halten?
Ich weiß es nicht. Wir befinden uns mitten im Krieg und Morden ist ein Teil des Krieges. Hilft dies, um Geiseln zu befreien? Wahrscheinlich nicht. Aber ich weiß es nicht genau. Es liegt ein bisschen außerhalb des Aufgabenbereichs unserer Organisation. Wir treffen keine Entscheidungen darüber, wer eliminiert und wo angegriffen wird. Wir sind eine zivilgesellschaftliche Organisation, also haben wir auf derlei Dinge keinen Einfluss.
Aber im Großen und Ganzen sind wir der Meinung, dass es eine Vereinbarung über die Befreiung der Geiseln geben muss, und dafür ist ein Waffenstillstand erforderlich. Und vor allem auch dafür demonstrieren wir seit Monaten.
Demonstration des Hostages and Missing Families Forum in der Nähe des «Hostage Square» beim Museum of Art in Tel Aviv am vergangenen Donnerstag Abend. (Um das Video zu starten, einfach auf das Bild klicken.) Foto: Torsten Engelbrecht
Teil der Demonstration des Hostages and Missing Families Forum in der Nähe des «Hostage Square» waren auch Stände mit Caps, Shirts etc. (Um das Video zu starten, einfach auf das Bild klicken.) Foto: Torsten Engelbrecht
Denken Sie denn, dass die Politik der israelischen Regierung hilfreich ist für Ihr Anliegen?
Es ist alles nicht schwarz oder weiß. Man kann nicht sagen, dass die gesamte Politik der Regierung schwarz ist oder dass alles weiß ist. Wir denken, die Frage lautet einfach: Wird von der Regierung genug für die Befreiung der Geiseln getan? Und die offensichtliche Antwort ist nein, denn es sind immer noch 115 von ihnen in Geiselhaft. Wir werden also weiterhin Druck auf die Regierung ausüben, bis alle 115 zurück sind.
Hier möchte ich den Haaretz-Journalisten Gideon Levy zitieren, der vor wenigen Tagen im Zusammenhang mit der Ermordung des Hamas-Chefs auf iranischem Territorium konstatierte: «Nach endlosen Attentaten, von denen keines, aber auch wirklich keines jemals den Interessen Israels gedient hat, macht Israel auf diese Weise weiter. Netanjahu will, dass dieser Krieg weitergeht.» Würden Sie dem zustimmen?
Muss ich auf das, was Gideon Levy sagt, antworten? Ich meine, welche Verpflichtung habe ich dazu? Es ist seine Sichtweise.
Aber was ist Ihr Standpunkt?
Mein persönlicher Standpunkt steht hier nicht zur Debatte. Ich spreche im Namen des Forums – und das Forum reagiert nicht auf die Artikel von Gideon Levy.
Es ist aber nicht nur Gideon Levy, der sich in dieser Weise zu Wort meldet. Die Kernaussage besteht darin: Krieg beendet den Krieg letztlich nicht. Wir haben weltweit so viele Kriege, obwohl die Militärausgaben wachsen und wachsen. Und auch der jetzige Krieg, der sich durch den Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 eingestellt hat, hat offenbar Zehntausenden, die meisten davon Palästinenser und darunter auch viele Kinder, das Leben gekostet. Die Hamas spricht aktuell gar von knapp 40.000 toten und mehr als 90.000 verwundeten Palästinensern.
Wenn Sie mich fragen, ob es besser wäre, ein Abkommen zur Beendigung des Krieges zu finden, dann lautet die Antwort: Ja, ich glaube schon. Wenn Sie mich fragen, ob es falsch war, dass der Staat Israel auf den 7. Oktober reagiert hat? Da will ich sagen: Es war nicht falsch. Es liegt meiner Meinung nach auf der Hand, dass die Antwort eines Landes, das einseitig von Tausenden, vielen Tausenden von Terroristen angegriffen wurde, die 1300 Menschen töteten und 251 Menschen als Geiseln nahmen, darin besteht, gegen sie in den Krieg zu ziehen.
Selbst bei McDonald’s im Zentrum von Tel Aliv läuft auf einem großen Bildschirm direkt hinter den Kassen ein Video, das Hamas-Geiseln zeigt. Auf dem Bild zu sehen ist die jüngste Geisel Kfir Bibas, der im Januar ein Jahr alt geworden wäre. Die Hamas hat ihn bereits im November 2023 für Tod erklärt. (Um das Video zu starten, einfach auf das Bild klicken.) Foto: Torsten Engelbrecht
Was aber müsste jetzt geschehen, um ein Abkommen zur Befreiung der Geiseln und einen Waffenstillstand und letztlich ein Ende der Feindseligkeiten zu erzielen?
Wie wir einen Waffenstillstand erreichen? Durch die Befreiung der Geiseln. Ohne Waffenstillstand kann man die Geiseln nicht befreien. Und man kann keinen Waffenstillstand erreichen, ohne die Geiseln zu befreien.
Ist das aber nicht ein bisschen wie das «Was war zuerst da: das Huhn oder das Ei-Problem» – und gegebenenfalls auch nicht umfassend genug gedacht?
Ich spreche hier nur von einer Vereinbarung. Die eine Seite sagt ja zum Waffenstillstand und die andere Seite sagt ja zur Befreiung der Geiseln. Es geschieht zur gleichen Zeit.
Warum wurde dies dann noch nicht erreicht?
Warum? Weil beide Seiten wahrscheinlich nicht motiviert genug sind, eine Einigung zu erzielen.
Einige sagen, dass die israelischen Geiseln nicht freigelassen werden, bevor nicht die von Israel gefangen gehaltenen Palästinenser – Schätzungen zufolge insgesamt mehr als 8000 – freigelassen werden.
Das ist Teil der Vereinbarung, das ist nicht der schwierigste Teil. Ganz und gar nicht. Ich glaube nicht, dass das ein Problem darstellt.
Welche Rolle spielt die Geschichte? Denken wir nur an die israelische Siedlungspolitik.
Wir sind eine Organisation, die sich mit Geiseln beschäftigt, nicht mit der Lösung des arabisch-israelischen Konflikts. Ich habe hier meine persönlichen Ansichten, aber die sind für dieses Interview nicht relevant. Ich spreche im Namen des Forums. Das Forum hat keine Meinung dazu, wie der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gelöst werden kann. Wir sind eine Ein-Themen-Organisation.
Das bedeutet: Wir haben nur ein Ziel – und das ist die Befreiung der Geiseln, von denen Fotos hinter Ihnen an der Wand hängen. Wenn die Geiseln befreit sind, können wir direkt zur Zwei-Staaten-Lösung übergehen. Ich persönlich bin dafür, aber das ist nichts, womit sich das Hostages and Missing Families Forum beschäftigt.
Einige verweisen aber darauf, dass die Regierungs Israels vor allem auch mit ihrem Vorgehen, was den Gaza-Streifen angeht, maßgeblich dazu beigetragen hat, die Hamas stark zu machen.
Die israelische Regierung hat eine Verantwortung für 115 Geiseln. Deshalb haben wir eine Petition an die Regierung gerichtet. Wir haben aber keine Möglichkeiten, Yahya Sinwar, der seit Februar 2017 als Nachfolger von Ismail Haniyeh als Führer der Hamas im Gazastreifen agiert, unter Druck zu setzen. Leider.
Man könnte Netanyahu dazu auffordern, er möge seine Politik ändern, damit sich die Dinge anders entwickeln, sodass die Hamas schließlich immer weniger Unterstützung von den Palästinensern bekommt. Doch das kann Jahre dauern. Was die Geiseln angeht, so zählt aber jeder Tag. Wir haben keine Zeit darauf zu warten, bis diese Leute den Konflikt gelöst haben.
Sind Sie zuversichtlich, dass es bald eine Lösung geben wird?
Lösung für was? Für die baldige Befreiung der Geiseln? Bin ich da zuversichtlich? Nein. Hoffnungsvoll? Ja.
Ich danke Ihnen vielmals für dieses Gespräch.
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Über Daniel Shek und das Hostages and Missing Families Forum: Shek trat vor 15 Jahren in den Ruhestand, nachdem er Botschafter Israels in Frankreich gewesen ist. Er gehört zu einer Gruppe von etwa einem Dutzend ehemaliger israelischer Diplomaten, die seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 für das Hostages Families Forum aktiv sind.
Die Organisation wurde weniger als 24 Stunden nach dem Hamas-Angriff auf israelische Dörfer und Städte gegründet und ist eine zivile, ehrenamtliche und politisch keiner Partei zugehörige Organisation, die sich dafür einsetzt, die von der Hamas gefangen genommenen Geiseln zurück nach Hause zu bringen. Der Organisation gehören nach eigenen Angaben Tausende von Freiwilligen an – von Familienangehörigen bis hin zu hochrangigen Persönlichkeiten aus dem Sicherheits-, Justiz-, Kommunikations-, Werbe-, Kreativ- und diplomatischen Sektor.
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Hier die weiteren sechs Teile der Berichte von meiner siebentägigen Reise nach Israel:
Sieben Tage Israel – Tag eins: «Dass noch so viele israelische Geiseln von der Hamas gefangen gehalten werden, ist unerträglich»
Sieben Tage Israel – Tag zwei: «Wer mit dem Finger auf die Regierung Israels zeigt, sollte sich mal die Weltpolitik vergegenwärtigen»
Sieben Tage Israel – Tag drei: «Die Probleme können nur durch eines gelöst werden – durch Liebe!»
Sieben Tage Israel – Tag fünf: «Die Dinge werden sich bald zum Besseren wenden – das sehe ich mit meinem inneren Auge»
Sieben Tage Israel – Tag sechs: Die heilige Stadt Jerusalem – Faszination und Sinnbild der globalen Zerwürfnisse in einem
Sieben Tage Israel – Abreise: «Danke, dass du aus Deutschland hierher zu Besuch gekommen bist»
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