In diesen kriegerischen Zeiten ist es wichtiger denn je, die wahren Gründe vergangener Kriege zu verstehen, damit man weiteren Eskalationen entgegenwirken kann. Um die Erinnerung an den NATO-Angriffskrieg auf Serbien vor genau einem Vierteljahrhundert wachzuhalten, werden wir in dieser Serie elf Wochen lang einmal wöchentlich dessen Hintergründe beleuchten. Genauso lange wurden die Serben bombardiert. Nachfolgend wird die Serie mit Teil 10 fortgesetzt (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 9).
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Erster NATO-Angriffskrieg
Zum Frühlingsbeginn 1999 waren die Weichen also gestellt, um Serbien zu bombardieren. In Teil 1 dieser Serie kam der serbische Student Dušan zu Wort, der, bezogen auf die Tage 14 Jahre zuvor, am 23. März 2013 gegenüber Elisa Satjukow, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ost- und Südosteuropäische Geschichte der Universität Leipzig, erklärte:
«Niemand aus meinem Freundeskreis oder ich selbst haben geglaubt, dass das passieren kann. Wirklich nicht. (…) Wir haben alle gedacht, dass sie ein bisschen drohen werden und Milošević einem Deal zustimmen wird oder so.»
Laut dem Historiker Michael Parenti verstießen die im März begonnenen Angriffe gegen Rest-Jugoslawien gegen die UN-Charta, die NATO-Charta und US-Gesetze. So besagt die NATO-Charta beispielsweise, dass die Allianz militärische Maßnahmen nur als Reaktion auf eine Aggression gegen eines ihrer Mitglieder ergreifen kann. Jugoslawien hatte jedoch kein NATO-Mitglied angegriffen. Und die US-Verfassung verlangt eine Kriegserklärung durch den US-Kongress, was nicht geschehen ist.
In seinem Buch «To Kill a Nation – The Attack on Yugoslavia» stellt Parenti zudem fest, dass die US-Führer zusammen mit dem Völkerrecht auch die traditionelle Diplomatie über Bord geworfen haben. Traditionelle Diplomatie sei ein Prozess der Verhandlung von Streitigkeiten durch Geben und Nehmen, Vorschlag und Gegenvorschlag, «ein Weg, die eigenen Interessen nur bis zu einem gewissen Grad durchzusetzen und schließlich zu einer Lösung zu gelangen, die eine Seite vielleicht unzufriedener macht als die andere, aber nicht so weit geht, dass eine der beiden Parteien zum Krieg gezwungen wird».
Hannes Hofbauer schreibt in seinem Buch «Balkankrieg – Zehn Jahre Zerstörung Jugoslawiens»:
«Am 24. März 1999 endet die fast auf den Tag genau 54 Jahre dauernde Nachkriegszeit in Europa. Erstmals seit 1945 wird ein souveräner Staat militärisch angegriffen. Die Bomben aus Jugoslawien werden als US-amerikanischen, britischen, französischen, deutschen, italienischen, kanadischen, holländischen, belgischen, spanischen und türkischen Flugzeugen abgeworfen. Die NATO, eine aus 19 Staaten bestehende Allianz, die sich erst wenige Tage zuvor um Polen, Ungarn und Tschechien erweitert hat, erklärt offiziell keinen Krieg.»
Hofbauer kritisiert die Erklärung des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton, «der oberste Feldherr der Bombardements», in der Nacht auf den 24. März. In ihr habe «ein perfides, die Geschichte völlig verfälschendes Argument der vermeintlichen Rechtfertigung» gesteckt, das «in der Folge – auf kaum weniger plumpe Art und Weise – von sämtlichen Allianzmitgliedern nachgebetet» wurde. Clinton verband nämlich die Serben mit den Konzentrationslager der Nazis während des Zweiten Weltkrieges, indem er erklärte:
«Sarajevo, die Hauptstadt des benachbarten Bosniens, ist der Ort, an dem der Erste Weltkrieg begann. Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust haben diese Region verschlungen. In beiden Kriegen erkannte Europa die Gefahren nur langsam, und die Vereinigten Staaten warteten sogar noch länger, bis sie in die Konflikte eingriffen. Man stelle sich nur vor, wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn die politischen Führer damals klug und früh genug gehandelt hätten. Wie viele Amerikaner hätten nicht sterben müssen?»
Der österreichische Autor stellt fest, dass die absichtliche Verwechslung von Kroatien und Serbien sowie von Tätern und Opfern im Holocaust keinen Protest der europäischen Verbündeten ausgelöst hatte. Stattdessen sei sie zur ideologischen Grundlage für den Krieg in Jugoslawien geworden:
«Von NATO-Generälen bis zur grünen-liberalen Intelligenz entstand in Westeuropa ein monatelang anhaltender, kaum durchbrochener gesellschaftlicher Konsens, wonach die serbische Politik in Kosovo mit der Nazi-Aggression der Jahre 1939-1945 vergleichbar sei. In der Folge erfanden Politiker und Medien serbische Konzentrationslager und Massenvernichtungsstätten, um der von Clinton für das ahnungslose US-amerikanische Heimatpublikum ausgestreuten historischen Absurdität zumindest post faktum Genüge zu tun.»
Was dann geschah, fasst Hofbauer so zusammen: «78 Bombennächte, über 50 Bombentage, 1.000 Kampfjets – nach anderen Angaben bis zu 1.600 – 35.000 Lufteinsätze, 15.000 Tonnen Explosivstoff auf Jugoslawien, 1.800 großteils bis zur Unkenntlichkeit zerfetzte Zivilisten, 500 (nach jugoslawischen Quellen) beziehungsweise 5.000 (nach NATO-Briefing) getötete Soldaten, 6.500 Verwundete, 1 Million Vertriebene, Zigtausende nach Ungarn, Österreich und Griechenland Geflüchtete, mehrere Tausend Ermordete im Kosovo, 280 Bombenangriffe auf Pristina, 156 auf Prizren, 120 auf Novi Sad, noch mehr auf Belgrad, 200 dem Erdboden gleichgemachte Fabriken, in Brand geschossene Raffinerien, ein lahmgelegtes Wasser- und Energiewesen, 33 zerstörte Brücken, unbezifferte Verwüstungen an Straßen- und Eisenbahnwesen, unschätzbare ökologischen Schäden, in Brand gesteckt kosovarische Dörfer, in Schutt und Asche gelegte Wohnviertel in fast allen Städten Jugoslawiens, zerbombte Regierungsgebäude, Rathäuser, Kirchen, Klöster, Spitäler, Schulen, Universitäten, Sportanlagen, Museen, Gedenkstätte, Friedhöfe.»
«Das Land ist zerstört. Die Führer der internationalen Wertegemeinschaft vertreten durch den NATO-Rat, legen Wert auf die Feststellung, jedem einzelnen Angriff ‹politisch› zugestimmt zu haben.»
Novi Sad während der NATO-Bombardierung, 1999; Bild:Darko Dozet, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Auch gemäß Hofbauer war der «nichterklärte NATO-Krieg gegen Jugoslawien» eine «jeder Rechtsgrundlage entbehrende Aggression».
Parenti erwähnt den Autor William Blum, der in seinem Buch «Rogue State: A Guide to the World’s Only Superpower» feststellte, dass die Entscheidungsträger bewusst planten, ein bestimmtes Ziel zu treffen, wobei sie wissentlich eine beträchtliche Zahl von Zivilisten töteten und anschließend öffentlich beteuerten, dass dies nicht beabsichtigt gewesen sei.
Während des größten Teils der Luftangriffe bestritten die NATO-Sprecher denn auch wiederholt, dass sie Zivilisten ins Visier genommen hätten. Opfer unter der Zivilbevölkerung wurden laut Parenti als unglückliche Unfälle abgetan oder den Serben zugeschrieben. Als Belgrad den Vorwurf erhob, NATO-Jets hätten einen Flüchtlingskonvoi getroffen und dabei Dutzende von Zivilisten getötet, habe der NATO-Oberbefehlshaber General Wesley Clark die jugoslawischen Streitkräfte für den Angriff verantwortlich gemacht. Schließlich habe er seine Version zurückgezogen, und die NATO habe verspätet die Verantwortung für den «Unfall» übernommen. Der Historiker weiter:
«Manchmal verteidigten die NATO-Angreifer ihre Gräueltaten, indem sie behaupteten, dass ein ziviles Ziel in Wirklichkeit ein militärisches Ziel sei. So zum Beispiel als das NATO-Sprachrohr Jamie Shea unverblümt verkündete, die Bombardierung des Krankenhauses von Surdulica sei absichtlich erfolgt, weil das Krankenhaus in Wirklichkeit eine Kaserne gewesen sei. Dies war eine eklatante Fälschung. Journalisten, die Surdulica unmittelbar nach der Bombardierung besuchten, entdeckten ein schwer beschädigtes Sanatorium mit den kläglichen Überresten von zivilen Toten.»
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