In diesen kriegerischen Zeiten ist es wichtiger denn je, die wahren Gründe vergangener Kriege zu verstehen, damit man weiteren Eskalationen entgegenwirken kann. Um die Erinnerung an den NATO-Angriffskrieg auf Serbien vor genau einem Vierteljahrhundert wachzuhalten, werden wir in dieser Serie elf Wochen lang einmal wöchentlich dessen Hintergründe beleuchten. Genauso lange wurden die Serben bombardiert. Nachfolgend wird die Serie mit Teil 9 fortgesetzt (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8, Teil 10, Teil 11).
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Deutschland wieder an vorderster Front
Bevor wir in dieser Serie zur Bombardierung Serbiens kommen, soll die Rolle Deutschlands bei der Zersplitterung Jugoslawiens näher betrachtet werden. Das wiedervereinte Land war nämlich in mancher Hinsicht an vorderster Front. Wie in Teil 1 dieser Serie schon erwähnt, fürchtete es vor allem die zu erwartende Konkurrenz der jugoslawischen Automobil- und Metallindustrie. Und es wollte sich wieder auf der Weltbühne positionieren.
Wie die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt, beschloss der Deutsche Bundestag am 30. Juni 1995 erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten in einen bewaffneten Einsatz zu schicken. Es sei «der Beginn des bis heute längsten Auslandseinsatzes in der Geschichte der Bundeswehr» gewesen. Die Schauplätze waren vorerst Bosnien und Herzegowina.
1999 war es dann ausgerechnet eine Rot-Grüne Regierung, die sich am Krieg gegen Serbien beteiligte. Die wohl erstaunlichste politische Metamorphose vollzog dabei der damalige Außenminister Joschka Fischer: Vom Steinewerfen gegen das System in jungen Jahren ging er zum Bombenwerfen für das System über.
Deutschland hatte Jugoslawien jedoch schon länger im Visier. Der 1996 verstorbene US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler, politische Analyst und Aktivist Sean Gervasi machte sogar einen deutschen «Expansionismus» aus. Im Winter 1992-1993 schrieb er, dass neben den propagandistisch ausgeschlachteten ethnischen Spannungen auf dem Balkan noch andere Kräfte am Werk waren:
«Jugoslawien ist seit geraumer Zeit das Ziel einer verdeckten Politik des Westens und seiner Verbündeten, vor allem Deutschlands, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, der Türkei und Saudi-Arabiens sowie des Irans, die darauf abzielt, Jugoslawien in seine ethnischen Bestandteile zu zerlegen, es zu zerschlagen und schließlich wieder zu besiedeln. Nicht, dass dies angesichts der jahrhundertelangen Spannungen und des Hasses eine besonders schwierige Aufgabe wäre. Schließlich ist der Begriff Balkanisierung in das politische Vokabular eingegangen, um einen Prozess der nationalen Zersplitterung und des Bruderkriegs zu definieren. Doch während die interne Dynamik des Krieges gut dokumentiert ist, haben die externen Kräfte der Destabilisierung, die vor Jahren in Gang gesetzt wurden, kaum Beachtung gefunden.»
In den späten 1980er Jahren hätten drei Faktoren plötzlich die Dynamik der Beziehungen zwischen den USA und Jugoslawien verändert, so Gervasi weiter: Jugoslawien habe begonnen, seine marktorientierten «Reformen» auszusetzen. Der Kalte Krieg endete, und Jugoslawien sei nicht mehr so nützlich gewesen:
«Und ein neu geeintes Deutschland, das eine größere Rolle in Europa anstrebte, verlangte von der Bush-Administration, die deutsche Politik zu übernehmen und auf die ‹Dissoziation›, das heisst die Zerschlagung Jugoslawiens, hinzuwirken.»
Während sich Jugoslawien Ende 1989 weiterhin in der Krise befand, hätte eine deutlich gestärkte industrielle und politische Führung in Deutschland nach Osten geblickt, erläutert der politische Analyst. Ihr Einfluss sei schnell «allgegenwärtig, in persönlichen Kontakten, geschäftlichen Investitionen und im intellektuellen Leben» gewesen:
«In der Zeit nach dem Kalten Krieg sind die Mittel zur Expansion eher wirtschaftlicher, politischer und kultureller als militärischer Natur. In Osteuropa wurden deutsche Handelsgruppen und Banken plötzlich sehr aktiv, und deutsche Unternehmen bemühten sich um niedrigere Kosten, insbesondere um niedrigere Löhne und Steuern. Bis 1991 wurde laut einer UN-Studie ein Drittel des Handels zwischen Ost- und Westeuropa von Deutschland abgewickelt, und Deutschland wurde zum wichtigsten ausländischen Investor in Osteuropa, insbesondere in der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen. Deutsche Firmen haben jetzt 1.500 Joint Ventures in Polen und 1.000 in Ungarn.
Aber es waren nicht nur wirtschaftliche Gründe, die Deutschland in den Osten trieben. Für viele Deutsche hatte die Expansion auch einen historischen Sinn. Ihre Firmen belebten Beziehungen zum Osten, die bis in die vorkommunistische Zeit und sogar bis in die Zeit des österreichisch-ungarischen Reiches zurückreichten. Und vielleicht noch beunruhigender für das teilweise rekolonisierte Osteuropa waren die kulturellen Kampagnen, die mit der wirtschaftlichen Expansion einhergingen.»
Wie Gervasi erläutert, förderten diese kulturellen Kampagnen den Gebrauch der deutschen Sprache, deutscher Bücher und der deutschen Kultur im Allgemeinen. Damals habe der deutsche Auslandsrundfunk eine «Medien- und Kulturoffensive in Mittel-, Ost- und Südeuropa» angekündigt. Sein Direktor habe das neue Deutschland «den wichtigsten medialen und kulturellen Brückenkopf zwischen Ost und West» [genannt]. Ziele und Umfang des deutschen Vorstoßes nach Osten seien von Henner Geldmacher, dem Vorsitzenden des Ost-Ausschusses, der Industriegruppe zur Förderung der Wirtschaft im Osten, zusammengefasst worden:
«Es ist unser natürlicher Markt (...) Am Ende wird uns dieser Markt vielleicht in die gleiche Position bringen, in der wir vor dem Ersten Weltkrieg waren.»
Die deutsche Expansion sei von einer steigenden Flut von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit begleitet worden, die alte jugoslawische Ängste wieder aufleben ließ, so Gervasi. Diese seien durch Beweise dafür genährt worden, dass Deutschland energisch versucht hat, sich unter seinen Verbündeten freie Hand zu verschaffen, um «eine wirtschaftliche Vorherrschaft in ganz Mitteleuropa anzustreben»:
«Im Jahr 1990 lag Jugoslawien im Weg dieses zunehmenden deutschen Strebens. Angesichts der wirtschaftlichen und politischen Macht Deutschlands und seiner Hilfs- und Handelsbeziehungen zu Jugoslawien erwarteten viele, dass Bonn versuchen würde, die Region in seine Umlaufbahn zu ziehen. Der naheliegendste Ansatzpunkt wären die nördlichen Republiken, die historisch als Teil Europas betrachtet wurden, und insbesondere Kroatien, das starke Verbindungen zu Deutschland hatte. Während des Zweiten Weltkriegs hatte Nazi-Deutschland in Kroatien einen klerikal-faschistischen Staat errichtet.»
Gemäss Jonathan Steinberg starben etwa 600.000 Serben und 70.000 Juden und Zigeuner in Lagern des kroatischen faschistischen Regimes. Nach dem Krieg sind laut Gervasi mehr als eine halbe Million kroatischer Emigranten in das Vaterland gezogen, wo ihre Organisationen erheblichen politischen Einfluss hatten. Gervasi zitiert den jugoslawischen Politiker und Kritiker Titos Milovan Djilas, der mehr als ein Jahr vor der Sezessionskrise von 1991 warnte:
«Es liegt definitiv im Interesse der Mehrheit der anderen Nationen – zum Beispiel der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und der UdSSR –, die Einheit Jugoslawiens zu unterstützen. (...) Aber ich bezweifle, dass die Nachbarn Jugoslawiens (...) so wohlwollend sind. Ich vermute auch, dass es in einigen Staaten, zum Beispiel in Deutschland und Österreich, einflussreiche Gruppen gibt, die Jugoslawien gerne zerfallen sähen – aus traditionellem Hass, aus expansionistischen Tendenzen und aus vagen, unrealistischen Rachegelüsten.»
Wie im dritten Teil dieser Serie schon erwähnt, äusserte sich der US-Historiker Michael Parenti in seinem Buch «To Kill a Nation – The Attack on Yugoslavia» in ähnlicher Weise, wobei er die Position der USA kritischer betrachtet:
«Einer der frühesten und aktivsten Befürworter der Sezession war Deutschland, das sich 1991 erstmals offen für die Zerschlagung Jugoslawiens einsetzte, Slowenien und Kroatien aber schon lange vorher jede erdenkliche Unterstützung zukommen liess. Die erklärte Politik Washingtons bestand darin, die jugoslawische Einheit zu unterstützen und gleichzeitig Privatisierungen, IWF-Schocktherapie und Schuldentilgung durchzusetzen, das heisst Jugoslawien mit Worten zu unterstützen und gleichzeitig mit Taten zu unterminieren. Die Bush-Administration äußerte ihre Besorgnis darüber, dass Bonn mit seiner Unterstützung der kroatischen Sezession ‹den USA zuvorkommt›, aber die USA taten wenig, um Deutschland von seinen Bemühungen abzuhalten. Und im Januar 1992 waren die Vereinigten Staaten zu einem aktiven Akteur beim Zerfall Jugoslawiens geworden.»
Parenti erklärt, dass die Waffenlieferungen und Militärberater, die in die abtrünnigen Republiken Sloweniens und Kroatiens strömten, insbesondere aus Deutschland und Österreich kamen. Deutsche Ausbilder beteiligten sich sogar an Kämpfen gegen die jugoslawische Volksarmee.
Dem Historiker zufolge hatte in Bosnien-Herzegowina die Mehrheit der bosnischen Bevölkerung anscheinend eine abtrünnige Republik nicht unterstützt. Dennoch hätten die USA und Deutschland den separatistischen Kräften in Kroatien und Bosnien wichtige materielle Hilfe geleistet. Ein Offizier der jugoslawischen Armee sei mit den Worten zitiert worden:
«Die kroatische Bewaffnung war der unseren stets überlegen. Sie hatten außergewöhnliche deutsche Gewehre für ihre Scharfschützen, die uns fast ständig in Schach hielten.»
CIA-Mitarbeiter und pensionierte US-Militäroffiziere hätten im Auftrag des Pentagons muslimische bewaffnete Einheiten ausgebildet und geführt, so Parenti weiter. Es sei allgemein bekannt, dass die CIA den Bosnienkonflikt angeheizt hat.
1996 schrieb Clemens Ronnefeldt im FriedensForum:
«1991 wurde die Weltöffentlichkeit vor, während und nach der ‹Operation desert storm› (2. Golfkrieg) durch eine bis dahin nicht gekannte Desinformationspolitik hinters Licht geführt. Vor, während und nach der ‹Operation storm› (Rückeroberung der Krajina) schien die Informationspolitik der Verantwortlichen wie auch zahlreicher Medien kaum besser.»
Ronnefeldt erwähnt den Schweizer Journalisten Andreas Zumach, «einen der besten Kenner des diplomatischen Balkan-Parketts», der die internationale Situation folgendermaßen beschrieb:
«Verlogener, irreführender und widersprüchlicher als in den letzten sechs Wochen waren die Erklärungen der Politiker und die Schlagzeilen in den Medien zum Bosnienkrieg kaum. Stärker als je waren sie von militärischer Sprache und Logik geprägt – vor allem in Washington, London, Paris, Bonn und im Brüsseler NATO-Hauptquartier. Das Schicksal der geschundenen Zivilbevölkerung Bosniens ist für die Initiatoren der säbelrasselnden Rhetorik nur nebensächlich. Vorrangig geht es allen Beteiligten um die Re-Legitimierung der längst überkommenen Institution NATO und um ihren Zusammenhalt. Dazu kommen allerdings nationale und innenpolitische Interessen.»
Bill Clinton sei es um den kommenden Wahlkampf gegen den Republikaner Bob Dole und die Sicherung der US-Dominanz in der NATO gegangen. Jacques Chirac hätte hingegen die Unterminierung dieser Dominanz und die Behauptung einer neuen Führungsrolle Frankreichs angestrebt.
«Volker Rühe, Klaus Kinkel und ihrem Ghostwriter, dem Generalinspekteur der Bundeswehr Klaus Naumann, [ging es] dagegen um die lang ersehnte Rückkehr Deutschlands in den Kreis der ‹normalen› Staaten, besonders auch auf militärischem Gebiet, und folglich um die Vorbereitung der deutschen Öffentlichkeit auf künftige ‹Kriegseinsätze der Bundeswehr›, bei denen es um ‹deutsche Interessen› gehe. John Major und der britische Verteidigungsminister Malcolm Rifkind schließlich orientieren ihre ‹realpolitische› Balkanpolitik vorrangig an dem Ziel, Serbien einigermaßen stabil zu halten – als Gegengewicht zum in London gefürchteten Einfluss Deutschlands in der Region.»
Nach allem, was damals bekannt war, hätte die Eroberung der ostbosnischen Enklaven Srebrenica und Zepa sowie die Rückeroberung der Krajina vermutlich auf einem «Kuhhandel» zwischen Milosevic und Tudjman beruht, so Zumach weiter:
«Der eigentliche Skandal besteht allerdings darin, daß vor allem Klaus Kinkel, der ‹Verständnis für die kroatische Reaktion äußerte› (taz, 5./6.8.95) sowie Bill Clinton, der demonstrativ auf eine Verurteilung der kroatischen Offensive verzichtete, dieses ‹Abkommen› mehr oder weniger mitgetragen haben. Ethnische Vertreibungen, Gräuel wie die Massenerschießung von Zivilisten, Plünderungen und Zerstörungen der jeweiligen Häuser für zehntausende Menschen aus Bosnien und rund 160.000 Angehörige serbischer Nationalität in ihren UN-geschützten Zonen wurden verbal billigend in Kauf genommen, tatsächlich durch den Abzug der Blauhelme aus den ostbosnischen Enklaven sowie die aktive Teilnahme auf Seiten Kroatiens sogar unterstützt.»
Ebenfalls im FriedensForum erklärten Thomas Klein und Ulla Frey 1995, wie Deutschland Kroatien zum Sieg verhalf. Der «Blitzkrieg» der kroatischen Armee in der Krajina habe selbst bei Militärexperten Erstaunen ausgelöst. Innerhalb weniger Stunden sei es der kroatischen Armee gelungen, die serbischen Stellungen zu überrennen und den Krieg in drei Tagen zu beenden.
Selbst ein Sprecher des Bonner Wirtschaftsministeriums habe damals von Gerüchten gewusst, «dass Slowenien und Kroatien sich Waffen aus dem Ausland beschaffen, möglicherweise auch aus Deutschland». Tatsache sei, dass von Deutschland aus ein intensiver Waffenschmuggel betrieben worden sei. Die über 40 Fälle von versuchtem Schmuggel mit Kriegsgerät, die von der Zollfahndung allein in München bereits Ende 1991 aufgedeckt wurden, seien nur die Spitze des Eisbergs.
Als Beispiel der Propaganda, in der sich «die Presse in ihren Boulevardgeschichten selbst übertraf», erinnert Parenti an eine bizarre Geschichte: Der Londoner Daily Mirror habe berichtet, dass eine bosnische Frau starb, «nachdem sie gezwungen wurde, einen Hund zu gebären». Variationen dieser «biologisch unglaublichen Geschichte» seien auch in der Bild am Sonntag und in der italienischen La Repubblica abgedruckt worden, mit reißerischen Berichten darüber, wie teuflische serbische Gynäkologen Hundeföten in die Gebärmutter der Frau eingepflanzt hatten.
Die Hundegeschichte sei auch vom «obskuren» CDU-Bundestagsabgeordneten Stefan Schwarz aufgegriffen worden. In der Tat berichtete die Zeit 1994 darüber. In diesem Zusammenhang habe Schwarz m Januar 1993 in den ARD-Tagesthemen verkündet:
«Es gibt wieder Menschenversuche, wie sie im Dritten Reich der KZ-Arzt Mengele durchgeführt hat.»
Und der Spiegel teilte 1993 mit, im Bundestag habe der Abgeordnete auch von «zerstückelten Menschenleibern, brutal vergewaltigten Frauen, kastrierten Männern und bei lebendigem Leib geschmorten Kindern» gesprochen.
Schwartz war allerdings bei weitem nicht der Einzige, der Anti-Serbische Propaganda verbreitete. So beobachtete die Zeit, dass die Serben als «eroberungssüchtiges Herrenvolk», als die «Erben Dschingis Khans», die «Schüler Saddam Husseins» oder als «Ethnofundamentalisten» dargestellt wurden. Gelegentlich sei ihr Name in Bezeichnungen wie «Serbobolschewisten» oder «Radikalserben» verschmolzen. Karikaturisten hätten Serben als sich wälzende Schweine, mutierte Stiere, reißende Wölfe, blutsaufende Saurier, doppelzüngige Schlangen, aasfressende Geier, hungrige Hyänen und bullige Kampfhunde gezeichnet. «Nicht mit Menschen hatte der Westen es also zu tun, sondern mit Monstern».
Der deutsche Beitrag zur Propaganda gegen Serbien, insbesondere durch den damaligen Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD), wird auch in der ARD-Dokumentation «Es begann mit einer Lüge» aus dem Jahre 2001 dargestellt. Und im Jahr 2022 berichtete Michael Martens in der Frankfurter Allgemeinen über Scharpings «balkanische Legenden».
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