In diesen kriegerischen Zeiten ist es wichtiger denn je, die wahren Gründe vergangener Kriege zu verstehen, damit man weiteren Eskalationen entgegenwirken kann. Um die Erinnerung an den NATO-Angriffskrieg auf Serbien vor genau einem Vierteljahrhundert wachzuhalten, werden wir in dieser Serie elf Wochen lang einmal wöchentlich dessen Hintergründe beleuchten. Genauso lange wurden die Serben bombardiert. Nachfolgend wird die Serie mit Teil 8 fortgesetzt (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 9, Teil 10, Teil 11).
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Der Rambouillet-«Hinterhalt»
Der letzte Akt vor der Bombardierung Serbiens waren die Verhandlungen im Februar 1999 im französischen Rambouillet und im März in Paris. Sie führten zum Entwurf des sogenannten «Vertrags von Rambouillet». Die multiethnische jugoslawische Delegation (bestehend aus Kosovo-Serben, Roma, albanischen und ägyptischen Vertretern) traf sich mit einer Delegation von Kosovo-Albanern und Vertretern aus der EU, Russland und den USA, darunter Aussenministerin Madeleine Albright. Das Ziel war angeblich, eine Verhandlungslösung zu erreichen. Der US-Historiker Michael Parenti nennt es in seinem Buch «To Kill a Nation – The Attack on Yugoslavia» jedoch einen «Hinterhalt». Er erwähnt eine Reihe von Vorschlägen, die von den Jugoslawen unterbreitet wurden. In den westlichen Medien sei so gut wie nichts darüber berichtet worden. Dazu gehörten:
- Eine Vereinbarung über die Einstellung der Feindseligkeiten im Kosovo und die Suche nach einer «friedlichen Lösung durch Dialog».
- Garantierte Menschenrechte für alle Bürger und die Förderung der kulturellen und sprachlichen Identität der einzelnen nationalen Gemeinschaften.
- Die erleichterte Rückkehr aller vertriebenen Bürger in ihre
Heimat. - Die größtmögliche Medienfreiheit.
- Eine gesetzgebende Versammlung, die nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird und in der die verschiedenen nationalen Gemeinschaften zusätzliche Sitze erhalten. Zu den Zuständigkeiten der Versammlung würden neben Haushalt und Steuern auch Regelungen für Bildung, Umwelt, medizinische Einrichtungen, Stadtplanung, Landwirtschaft, Wahlen, Eigentum sowie wirtschaftliche, wissenschaftliche, technische und soziale Entwicklung gehören.
Die Vorschläge Belgrads wurden als Verhandlungsgrundlage beiseite geschoben. Stattdessen legte das US-Außenministerium ein neunzigseitiges Dokument vor: das «Friedensabkommen von Rambouillet». Darin wurden vollständige Autonomie für den Kosovo, der Abzug der jugoslawischen Truppen aus der Provinz und die Besetzung durch NATO-Truppen gefordert. Parenti erläutert:
«Dem Kosovo, das historisch gesehen ein integraler Bestandteil Serbiens ist, würde de facto die Unabhängigkeit gewährt werden. Dennoch würde die abtrünnige Provinz in der Lage sein, Einfluss auf Jugoslawien und Serbien auszuüben, indem sie ihre Vertreter in jugoslawische und serbische Parlamente, Ministerkabinette und Gerichte entsendet, während Jugoslawien und Serbien von jeglichem Mitspracherecht in den Angelegenheiten des Kosovo ausgeschlossen wären. Dies war genau der einseitige Aspekt der Verfassung von 1974, der den Albanern während des größten Teils der 1980er Jahre ein Vetorecht in serbischen Angelegenheiten gegeben hatte. Sie ließ das Kosovo faktisch unabhängig von Serbien und Jugoslawien, ohne dass Serbien und Jugoslawien unabhängig vom Kosovo waren. Im Namen der Autonomie würde die Verfassung des Kosovo die jugoslawische und serbische Verfassung außer Kraft setzen.
Als Reaktion auf die starken Forderungen der Bevölkerung hatte das serbische Parlament dafür gestimmt, die Autonomie des Kosovo auf die normalen föderalen Standards zu reduzieren, die vor 1974 geherrscht hatten. Dies führte zu einem allgemeinen albanischen Boykott der serbischen Institutionen und zu einer Ablehnung der beträchtlichen demokratischen Rechte, die das Kosovo noch besaß. Auf jeden Fall ist die oft wiederholte Behauptung, der rücksichtslose Diktator Miosevic habe dem Kosovo seine Autonomie genommen, eine schwere Verzerrung.»
Laut dem «Abkommen» von Rambouillet musste Jugoslawien dem Kosovo weiterhin direkte Hilfe und einen «gerechten» Anteil an den Bundeseinnahmen gewähren, während es keinen Einfluss auf die Bundesmittel und das im Kosovo zurückgelassene Eigentum hatte. Außerdem wurde darin dem Kosovo substanzielle Hilfe versprochen, während aber die 650.000 Flüchtlinge in Serbien leer ausgehen sollten. Auch die Sanktionen gegen Serbien sollten nicht ausgesetzt werden.
Im Rahmen von Rambouillet würde eine von der NATO ernannte zivile Implementierungsmission (CIM) das Kosovo regieren, die Parenti an die koloniale Kontrolle der USA und der EU über die muslimisch-kroatische Föderation in Bosnien und die Republika Srpska erinnert. Der Chef der CIM hätte die Befugnis, «den Parteien [Jugoslawien und Kosovo] in allen wichtigen Angelegenheiten, die er für richtig hält, verbindliche Weisungen zu erteilen, einschließlich der Ernennung und Absetzung von Beamten und der Beschneidung von Institutionen».
«Das ‹Abkommen› von Rambouilet hätte den Kosovo in eine NATO-Kolonie verwandelt und einen grossen Schritt in Richtung Unterordnung ganz Jugoslawiens getan. Westlichen Entscheidungsträgern war seit langem klar, dass ein zu grosser Teil der jugoslawischen Wirtschaft immer noch im gemeinnützigen öffentlichen Sektor verblieb, einschließlich des Trepca-Bergbaukomplexes im Kosovo, der in der New York Times als ‹glitzernder Preis des Krieges (...) das wertvollste Stück Immobilien auf dem Balkan (...) mit Vorkommen von Kohle, Blei, Zink, Kadmium, Gold und Silber im Wert von mindestens fünf Milliarden Dollar› dargestellt wurde. Nach den Vorschlägen von Rambouillet gehörten die Minen von Trepca zu den Besitztümern des Bundes, die Jugoslawien privatisieren und verabschieden musste.»
Wie der Historiker weiter schreibt, erklärte sich die jugoslawische Delegation in Rambouillet bereit, dem Kosovo die De-facto-Unabhängigkeit zuzugestehen, einschliesslich der Kontrolle über die Religion, das Bildungswesen, das Gesundheitssystem und die lokale Verwaltung. Sie habe jedoch versucht, Änderungen auszuhandeln, die es der Bundesrepublik Jugoslawien zum einen erlauben würde, die Autorität über die Wirtschafts- und Außenpolitik zu behalten, und zum anderen jegliche internationale Präsenz im Kosovo auf Beobachtung und Beratung zu beschränken. Parenti zitiert Ronald L. Hatchett, der in seinem Beitrag «The Road to War: The Set-Up at Rambouillet» in The Kosovo Dossier klargemacht hat:
«Die serbischen Verhandlungsbemühungen wurden kurzerhand abgetan, und den Serben wurde gesagt, sie hätten nur zwei Möglichkeiten: das Abkommen in seiner jetzigen Form zu unterzeichnen oder sich der Bombardierung durch die NATO auszusetzen.»
Parenti beschreibt, was er den «freien Markt über alles» nennt:
«Die US-Beamten in Rambouillet machten ihr entschlossenes Eintreten für den freien Markt deutlich. In Kapitel 4a, Artikel 1, des ‹Abkommens› von Rambouillet heisst es unmissverständlich: ‹Die Wirtschaft des Kosovo wird nach den Grundsätzen der freien Marktwirtschaft funktionieren.› Der Verkehr von ‹Waren, Dienstleistungen und Kapital in den Kosovo› sollte nicht eingeschränkt werden. Die Bürger des Kosovo und des übrigen Serbiens wurden nicht nach ihrer Meinung gefragt. Wie bei jedem anderen Aspekt des ‹Abkommens› wurden Fragen des Handels, der Investitionen und des Eigentums an Unternehmen von den westlichen Entscheidungsträgern für sie geregelt.»
Das «Abkommen» von Rambouillet war laut dem Historiker überhaupt kein Abkommen, keine Verhandlungslösung, sondern «ein Ultimatum zur bedingungslosen Kapitulation, ein Diktat, das für Jugoslawien den Tod bedeutete und von Belgrad nicht akzeptiert werden konnte». Der australische Journalist John Pilger stimmt dem zu:
«Wer das Dokument von Rambouillet genau studiert, hat kaum Zweifel daran, dass die Entschuldigungen für die anschließenden Bombardierungen erfunden waren. Die Friedensverhandlungen waren inszeniert, und den Serben wurde gesagt: Ergib dich und du wirst besetzt, oder du ergibst dich nicht und wirst zerstört.»
Ronald Hatchett zufolge war es «eine als Friedensabkommen getarnte Kriegserklärung». George Kenney, ein ehemaliger Referent des US-Außenministeriums für Jugoslawien, untermauert diese Ansicht ebenfalls:
«Eine unanfechtbare Pressequelle, die regelmäßig mit Außenministerin Madeleine Albright reist, sagte mir, dass ein hochrangiger Beamter des Außenministeriums damit geprahlt habe, dass die Vereinigten Staaten ‹die Messlatte absichtlich höher gelegt haben, als die Serben akzeptieren konnten›. Die Serben brauchten, so der Beamte, ein wenig Bombardierung, um zur Vernunft zu kommen.»
James Jatras, ein außenpolitischer Berater der Republikaner im US-Senat, berichtete in einer Rede im Mai 1999 im Wesentlichen das Gleiche:
«Es gab eine bewusste Strategie der USA, unannehmbare Forderungen zu stellen, um Milošević als widerspenstigen Kriegstreiber erscheinen zu lassen und so einen Vorwand für das Massaker der NATO aus der Luft zu schaffen.»
Hannes Hofbauer stellt in seinem Buch «Balkankrieg – Zehn Jahre Zerstörung Jugoslawiens» fest:
«Jeder objektiv eingestellte Beobachter hätte erkennen müssen, dass dieses Vertragswerk seinen Namen nicht verdiente. Neben einem internationalen Verwalter, 28.000 NATO-Soldaten, eine Anerkennung der UÇK als De-facto-Polizeibehörde und einer in drei Jahren absehbaren Sezession des Kosovo waren im militärischen Teil des Papiers Paragraphen versteckt, die ganz Serbien und Montenegro zu einem Aufmarschgebiet für die NATO gemacht hätten. Artikel 8 setzte fest, dass sich das ‹NATO-Personal (…) innerhalb der gesamten Bundesrepublik, einschließlich ihres Luftraumes und ihrer Territorialgewässer frei und ungehindert bewegen können› muss. Die Weigerung Belgrads, diesen Text unterzeichnen, war verständlich.»
Hofbauer zitiert auch den «keineswegs als Serbenfreund bekannten ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger». Über den ersten Vertragsentwurf, der auch von der UÇK abgelehnt wurde, schrieb dieser am 28. Februar in der Welt am Sonntag:
«Von Jugoslawien, einem souveränen Staat, verlangt man die Übergabe der Kontrolle und Souveränität über eine Provinz mit etlichen nationalen Heiligtümern an ausländisches Militär. Analog dazu könnte man die Amerikaner auffordern, fremde Truppen in Alamo einmarschieren zu lassen und die Stadt an Mexiko zurückzugeben, weil das ethnische Gleichgewicht sich verschoben hat.»
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