Das «Damoklesschwert» eines Angriffs aus dem Iran und der Hisbollah hängt nach wie vor über Israel – vor allem auch, wenn man der Medienberichterstattung Glauben schenkt. «Ganz Israel trifft Vorkehrungen für einen massiven Gegenschlag Irans nach dem Attentat auf Hamas-Politbürochef Ismail Haniyyeh», schrieb etwa Thore Schröder, seit Januar 2024 Spiegel-Korrespondent für Israel und die Palästinensischen Gebiete mit Sitz in Tel Aviv.
Im Interview mit dem Spiegel-Videopodcast «Shortcut», veröffentlicht am 6. August, heißt es, Schröder durchlebe «gerade eine wirklich krasse Zeit». Auf die Frage, wie er sich «für die nächsten Tage wappnet», antwortet er:
«Es kommen Erinnerungen an Covid hoch. Ich habe gestern oder vorgestern erstmal Hamsterkäufe hier unternommen. Irgendwie Reis, Hülsenfrüchte und Wasser und so weiter gekauft, Dinge, die nicht verderben können – falls hier der Strom ausfällt ... [Meine] Kollegin Alexandra Berlin ... [und ich] haben Schutzausrüstung und Helme gekauft.»
Klingt krass, doch Schröders leicht verschmitztes Lächeln erweckt nicht gerade den Eindruck, dass er unter Kriegsängsten leidet. Auch so mancher Kommentargeber ist skeptisch. @Siewissennichtwassietun etwa meint: «Er hat Reis gekauft, wie [aber] will er denn kochen, wenn es keinen Strom gibt?» @waage0815 wiederum schreibt: «Durch die großen Glasfenster im Hintergrund sieht es nicht wirklich nach dem Nahen Osten aus, Herr Schröder ...» Und @user-rb6wt5by2u ist gar der Auffassung: «Was uns droht, geht mir am Bürzel vorbei!»
In der Tat erweckt das Leben in Tel Aviv nach wie vor nicht den Eindruck, den der 1982 Geborene hier zu vermitteln gedenkt. Hamsterkäufe tätigt hier niemand. Und Menschen mit schusssicheren Westen erblickt man weit und breit erst recht keine.
Das Ganze sieht eher so aus, wie es seine Kollegin Berlin in ihrem Beitrag vom 9. August «Ich habe null Panik» beschreibt. Darin geht es um tausende Ukrainer, die vor Russlands Angriffskrieg nach Israel geflohen sind und die sich «nicht vor einer Attacke aus dem Iran fürchten».
Thore Schröder, Spiegel-Korrespondent für Israel, erzählt aus Tel Aviv, er würde sich unter anderem mittels «Schutzausrüstung, also Westen und Helme, gegen eine womöglich unmittelbar bevorstehende Reaktion des Iran auf die Tötung eines Hamas-Anführers wappnen»; Quelle: Youtube-Kanal des Spiegel
Auch der nette Herr von der Autovermietung, bei der ich meinen Mietwagen für meine Exkursion nach Jerusalem abhole, wirkt geradezu tiefenentspannt. Als ich ihm das Ziel meines Trips verrate, kommt kein einziges Wort der Warnung aus seinem Mund. In aller Ruhe macht er die Unterlagen fertig und wünscht mir mit einem freundlichen Lächeln eine gute Reise.
Wie sehr es vor allem der Alltag ist, der das Leben der Menschen zu diktieren scheint, macht sich besonders an den Souvenirverkäufern der Jerusalemer Altstadt bemerkbar. Sucht man etwa bei Google nach «Jerusalem Altstadt», so wirft die Suchmaschine die Info aus, «in Geschäften und auf Märkten in belebten Gassen werden Gebetsmäntel, Rosenkränze und Keramiken verkauft und an Essensständen gibt es Falafel, Pita und frisch gepressten Saft».
Das hier beschriebene Warenangebot ist auch tatsächlich vorzufinden. Doch von «belebten Gassen» kann hier in der «old city» von Jerusalem – einer Stadt, die sogar von Spiegel-Korrespondent Schröder als so sicher eingestuft wird, dass er sie neben einem Bunker als Ort nennt, den er ansteuern würde, «wenn es richtig kracht» – keine Rede sein.
Selbst an diesem Ort voller Jahrtausende alter Sehenswürdigkeiten sind die engen Gassen nahezu leergefegt, vor allem was ausländische Touristen angeht. Entsprechend niedergeschlagen wirken die Geischtausdrücke vieler Andenkenhändler, die bereits selbst unter «normalen» Umständen ein mühsames Alltagsleben führen.
NOV 05: Juden, Christen und Muslime auf dem Jerusalemer Altstadtmarkt am 5. November 2010. So gut besucht, wie auf dem Bild zu sehen ist, sind die Gassen derzeit bei weitem nicht; Foto: © Rafael Ben Ari | Dreamstime.co
So fahren in dem engen Gewirr aus Gassen, Häusern und Treppen, in dem sie ihre Verkaufsstände haben, keine Autos. Daher müssen viele Waren auf Karren und mit purer Muskelkraft transportiert werden. Zudem erweckt der «Schnickschnack» der Stände, deren Warenangebot sich übrigens fast wie ein Ei dem anderen gleicht, nicht den Eindruck, als würde mit ihm üppig Gewinn erzielt werden können.
Als ich an einem Stand kurz zum Stehen komme, zögert ein untersetzter Herr von schätzungsweise Ende 40 keine Sekunde, um auf mich zuzukommen und mir seine Souvenirs mit Hochdruck feilzubieten. Selbst mehrfache Hinweise, dass ich momentan leider nichts zu kaufen gedenke, übergeht er und bietet mir weiter Waren an.
Das macht mich ziemlich traurig, wird mir doch wieder besonders gewahr: Wieso muss die Welt so sein, dass unzählige Menschen nicht nur Hunger und den Tod durch Kriegswaffen fürchten, sondern auch mit der ständigen Angst leben müssen, nicht genug zu verdienen, um das tägliche Leben finanzieren zu können, während Tesla-Gründer Elon Musk, also ein einziger Mensch, ein Vermögen von 222 Milliarden US-Dollar sein Eigen nennen darf?
Dieser Gedanke bekommt hier in Jerusalem eine besondere Schwere, da in dieser Stadt die Historie besonders zu spüren ist. So ist die Altstadt Jerusalems von einer Stadtmauer umgeben, die im 16. Jahrhundert errichtet wurde. Und in ihr befinden sich heilige Stätten wie die Klagemauer, dem für Juden heiligsten Ort, deren Alter auf mehr als 2.000 Jahre datiert wird, oder auch die Grabeskirche aus dem 4. Jahrhundert, die dort steht, wo Jesus gekreuzigt und begraben worden sein soll..
Die Klagemauer, auch Westmauer genannt, befindet sich im Jüdischen Viertel der Altstadt von Jerusalem. Sie ist eine religiöse Stätte des Judentums. Viele der mächtigen Steinblöcke, aus denen die Mauer erbaut ist, bestehen aus dem Jerusalemer Meleke-Kalkstein, der einst am nördlichen Stadtrand gewonnen wurde; Foto: Torsten Engelbrecht
Die Stätte, von dem Christen glauben, dass es sich um das Grab Jesu handelt. Sie befindet sich in der Grabeskirche, auch als Kirche vom heiligen Grab bezeichnet, in der Altstadt Jerusalems, die an der überlieferten Stelle der Kreuzigung und des Grabes Jesu steht. Die Kirche zählt zu den größten Heiligtümern des Christentums; Foto: Torsten Engelbrecht
Und schaut man in diese lange Geschichte, so gibt es in ihr ganz besonders eine Art Konstante: Die Ungleichheit unter den Menschen. In Gegenblende etwa, dem Online-Debattenmagazin des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB, heißt es dazu:
«In der Antike ebenso wie im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit finden wir scharf ausgeprägte ökonomische, soziale, politische und kulturelle Ungleichheiten, deren Profil bis ins späte 18. Jahrhundert ... besonders krass konturiert war.»
Die Geschichte der Ungleichheit soll Archäologen zufolge im Übrigen vor vielen Tausend Jahren in einem Haus begonnen haben, das sich in der Gegend des heutigen Israel befand. Die Welt schreibt dazu:
«Vermutlich fing die ganze Sache damit an, dass jemand Körner in einen Topf aus Kalkstein füllte, vor etwa 13.000 Jahren. Es kann auch schon tausend Jahre früher passiert sein. Der Topf stand fortan in der Ecke eines Hauses, an der östlichen Küste des Mittelmeers, dort wo heute Israel, Jordanien, Syrien liegen. In dem Topf lagerte ein Vorrat, den man gegen Muschelschalen tauschen konnte, oder einen Gefallen. Ein kleines, privates Vermögen.
Aus einem Jäger und Sammler vom Volk der Natufier war ein Sparer geworden, der sich einen Vorteil gegenüber den anderen Jägern und Sammlern verschafft hatte. Die Gesellschaft war ein wenig ungleicher geworden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit – das vermuten Archäologen, die Stätten der Natufier untersuchten und dabei auf die bislang frühesten Spuren sozialer Unterschiede stießen.»
Dass extreme Ungleichheit nicht naturgegeben ist, zeigt sich auch an so manchem der wenigen von der Zivilisation noch (weitgehend) unberührten Naturvölker. Ein Zeugnis dafür sind die in Südthailand beheimateten Maniq.
So kennt das nomadisch, also ohne jede Form von Landwirtschaft lebende Regenwaldvolk keinen Besitz, keinen Wettstreit und keine Anführer, wie etwa die NZZ kürzlich unter Berufung auf den Forscher Khaled Hakami berichtete. Was für ein Gegensatz zu dem, was in Zusammenprall der Mächte und Religionen, der sich in Jerusalem in komprimierter Form darstellt, zu spüren ist.
Die Maniq beschäftigen sich auch nur zwei bis vier Stunden am Tag mit notwendigen Arbeiten. Ansonsten liegen sie herum, rauchen, kuscheln – oder modern ausgedrückt: chillen.
Und damit nicht genug. «Sie kennen keine andere Zeit als das Jetzt», so die NZZ. Davon können nicht nur die Souvenirhändler der Jerusalemer Altstadt träumen, sondern wir alle, die sich im Hamsterrad der «modernen» Welt tagein tagaus abstrampeln. Da kann man dem Forscher Hakami nur zustimmen, wenn er das Fazit zieht: «Nicht die Maniq sind seltsam, sondern wir.»
Dass ein solches Verständnis von einem wirklich sozialen Miteinanders weitgehend aus der Welt verschwunden ist, das ist in Jerusalem entsprechend deutlich spürbar. Zwar ist die Altstadt der vor rund 4.000 Jahren gegründeten Metropole, die inzwischen 925.000 Einwohner zählt, in vier ethnische und religiöse Bereiche aufgeteilt: das muslimische, christliche, jüdische und armenische Viertel. Und es gibt keine offensichtlichen Barrieren zwischen ihnen. Sprich, eine Koexistenz wird hier durchaus gelebt. Doch ein wirkliches Miteinander gibt es bei weitem auch nicht.
In einem Beitrag des Blogs Befor We Die von März dieses Jahres über Jerusalem heißt es dazu:
«Dass die Koexistenz von Religionen nicht immer so gut klappt, insbesondere wenn wenig räumliche Distanz gegeben ist, wissen wir alle. Ich bin nicht sicher, ob es in der Geschichte der Menschheit überhaupt jemals einen Krieg gab, dessen Grund nicht die Religion war. Gut, und Ressourcen.<br
Der Mensch teilt nunmal nicht gerne – auch seine heilige Stadt nicht. Für jede der drei Religionen ist Jerusalem aus historischer Sicht von immenser Bedeutung. Das führt naturgemäß zu Anspannung – diese Anspannung habe ich die komplette Zeit über in der ganzen Stadt gespürt.»
Genau genommen müsste es heißen: Der Mensch, so wie er sich in den besonders auf Konkurrenz und auf die Zukunft ausgerichteten Gesellschaften präsentiert, teilt nunmal nicht gerne ...
Derweil heißt es in dem Beitrag «In der Altstadt von Jerusalem: Eine Stadt, drei Welten» der Süddeutschen Zeitung:
«Obwohl [Jerusalem] mit dem Jerusalemgesetz von 1980 offiziell zur Hauptstadt von Israel erklärt [wurde], ist der politische Status der Stadt international umstritten. Ostjerusalem wird von palästinensischen Organisationen als Hauptstadt eines künftigen palästinensischen Staates beansprucht. Für Israel dagegen ist die territoriale Vollständigkeit Jerusalems nicht verhandelbar. Aus diesen, aber auch aus konfessionellen Gründen kommt es in der Altstadt immer wieder zu Auseinandersetzungen.»
Hintergrund ist, dass Ostjerusalem 1967 im Sechstagekrieg von Israel erobert worden war. Aus israelischer Sicht ist Ostjerusalem heute Teil des vereinigten Jerusalem einschließlich der Teile des Westjordanlandes, die von Israel zum Jerusalemer Stadtgebiet erklärt wurden.
Doch die 1980 durch das Jerusalemgesetz erfolgte Annexion des in besagtem Sechstagekrieg eroberten Gebiets wurde von der internationalen Staatengemeinschaft ebenso wenig anerkannt wie die vorangegangene Annexion Ostjerusalems durch Jordanien im Jahr 1950.
Inzwischen schreiben wir den 12. August. Und der angekündigte Großangriff des Iran auf Israel ist immer noch nicht erfolgt. Das israelische Medium Haaretz schreibt dazu aktuell:
«Iran bleibt zu Vergeltungsmaßnahmen gegen Israel entschlossen, hat aber Bedenken wegen des Preises, den es zahlen könnte. Der neu gewählte Präsident Massud Pezeshkian hat die Wiederherstellung der iranischen Wirtschaft und die internationalen Beziehungen als oberste Ziele definiert und ist Berichten zufolge besorgt vor einem Angriff, der schwerwiegende Folgen für das Land haben könnte.»
Was die Zukunft bringt und ob der Iran doch noch eine Attacke fährt, die Israel einen schmerzlichen Verlust beibringt, weiß natürlich niemand. Fakt bleibt derweil, dass ein solches Unterfangen wohl einem «Selbstmord» gleichkäme, wie etwa France 24 bereits am 2. August schrieb und Haaretz am 5. August meinte.
Fakt ist zudem, dass sich weiterhin vor allem Menschen außerhalb Israels, darunter die im Gaza-Steifen lebenden, Sorgen um ihre Sicherheit und gar ihr Leben machen müssen. So sollen vor zwei Tagen bei einem israelischen Luftangriff auf ein Schulgebäude, in dem vertriebene Palästinenser in Gaza-Stadt untergebracht sind, mehr als 70 Menschen ums Leben gekommen sein – ein Blutbad, das das sogar die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris mit den Worten verurteilte: «Es sind schon wieder viel zu viele Zivilisten gestorben.»
Ein israelischer Militärsprecher rechtfertigte das Gemetzel damit, die Schule habe den Schulkomplex al-Taba’een als aktive militärische Einrichtung der Hamas und des Islamischen Dschihad gedient. Die Hamas hingegen bestreitet dies.
Nicht weniger als geschätzte 96 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens sollen derzeit «auf Krisenniveau hungern», wie Experten der Integrated Food Security Phase Classification IPC kürzlich berichteten.
Auch wurden bis zum 9. August 2024 knapp 40.000 Palästinenser als im Krieg zwischen Israel und Hamas getötet gemeldet, darunter auch mehr als 200 humanitäre Helfer. Die israelische Seite verzeichnet demgegenüber knapp 1.500 Opfer.
Derweil beschleicht mich das Gefühl, die US-Demokraten könnten die Geschicke maßgeblich beeinflussen (wollen). So stehen ja im November die Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten an. Könnte es also sein, dass Harris und ihre Truppe darauf hinarbeiten, sich letztlich als diejenigen präsentieren zu können, die eine Eskalation in Nahost verhindert haben, um so noch mal ordentlich Pluspunkte bei den Wählern sammeln zu können für den Fall, dass Donald Trump nicht besiegbar scheint?
Nun, wir werden sehen.
Als ich vor dem Eingang zur Klagemauer, der mit Uniformierten gesäumt ist, stehe, sehe ich ein Mädchen, das voller Begeisterung nicht aufhören kann, eine offensichtlich schwangere Katze mit buschigem grauen Fell zu streicheln. Wie simpel und einfach es doch sein kann, etwas im Leben zu realisieren, das einen mit Freude erfüllt ...
Ein Mädchen, das vor dem Eingang zur Klagemauer eine Katze streichelt; Foto: Torsten Engelbrecht
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Hier die weiteren sechs Teile der Berichte von meiner siebentägigen Reise nach Israel:
Sieben Tage Israel – Tag eins: «Dass noch so viele israelische Geiseln von der Hamas gefangen gehalten werden, ist unerträglich»
Sieben Tage Israel – Tag zwei: «Wer mit dem Finger auf die Regierung Israels zeigt, sollte sich mal die Weltpolitik vergegenwärtigen»
Sieben Tage Israel – Tag drei: «Die Probleme können nur durch eines gelöst werden – durch Liebe!»
Sieben Tage Israel – Tag vier: «Ich bin nicht zuversichtlich, aber hoffnungsvoll, dass die Hamas-Geiseln bald frei sein werden»
Sieben Tage Israel – Tag fünf: «Die Dinge werden sich bald zum Besseren wenden – das sehe ich mit meinem inneren Auge»
Sieben Tage Israel – Abreise: «Danke, dass du aus Deutschland hierher zu Besuch gekommen bist»
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